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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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IV. Hypochondrische Studien -- Ode an die Nerven.
seinem sonstigen realen und idealen Elend noch mit dem
Fluche der Lächerlichkeit beladen ist und dessen Freunde, dessen
Familie, ja dessen Dienstboten die Achseln über ihn zucken.
Das Schlimmste bei alle dem ist, daß der Gegenstand der
Beobachtung zugleich den Träger für das Medium derselben
bildet, mit anderen Worten, daß die Nerven das Gehirn
beherrschen, folglich Urtheilsvermögen, Gedächtniß, Stimmung
und Alles, was damit zusammenhängt, fortwährend be-
einflussen. Wo soll unter solchen Umständen Klarheit und
Gegenständlichkeit herkommen? Die Schüsse eines Kanonen-
bootes auf stürmisch bewegter See und bei trüber Atmosphäre
mögen kaum ihres Zieles unsicherer sein, als die Wahr-
nehmungen und Schlüsse eines Leidenden dieser Gattung.
Ich beschwöre Sie, lassen Sie ab von Ihren hypochondrischen
Studien, suchen Sie lieber Ihre durch ein Uebermaß von
Arbeit erzürnten Nerven durch Müßiggang zu versöhnen.

-- Jetzt merkte ich erst an den Mienen meines
Akademikers, daß er sich einen Scherz mit mir erlaubt hatte.
Ich möchte, sagte er, Sie umarmen, so freue ich mich, in
Ihren Ansichten die meinigen bestätigt zu finden. Nur diese
herauszulocken, war es mir zu thun, denn ich ahnte, daß
auch Sie in dem Gebiete Erfahrungen haben. Als ich mich
darauf in Boxerpositur setzte und mit der Faust sein Ganglien-
system bedrohte, zog er sich um Pardon bittend zurück und
nahm ein Blatt aus der Brieftasche.

-- Ich greife in die Leier, um den Zorn des britischen
Leoparden zu besänftigen. Hierauf las er mir seine
"Ode an die Nerven" vor, von welcher ich jetzt nur noch
wenig berichten kann. Das Geflecht der Nerven, in dem
unser leibliches und geistiges Ich verstrickt ist, wurde mit
dem Netze des Knaben verglichen, in dem er Schmetterlinge
fängt, dann mit den Netzen, die dem Vogelsteller, dem
Fischer, der Spinne eine Quelle des Lebens und des Genusses
sind. Sodann wurden die Nerven unseres Erdballs, die
Telegraphen, betrachtet, die uns bald zum Leitfaden, bald

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IV. Hypochondriſche Studien — Ode an die Nerven.
ſeinem ſonſtigen realen und idealen Elend noch mit dem
Fluche der Lächerlichkeit beladen iſt und deſſen Freunde, deſſen
Familie, ja deſſen Dienſtboten die Achſeln über ihn zucken.
Das Schlimmſte bei alle dem iſt, daß der Gegenſtand der
Beobachtung zugleich den Träger für das Medium derſelben
bildet, mit anderen Worten, daß die Nerven das Gehirn
beherrſchen, folglich Urtheilsvermögen, Gedächtniß, Stimmung
und Alles, was damit zuſammenhängt, fortwährend be-
einfluſſen. Wo ſoll unter ſolchen Umſtänden Klarheit und
Gegenſtändlichkeit herkommen? Die Schüſſe eines Kanonen-
bootes auf ſtürmiſch bewegter See und bei trüber Atmoſphäre
mögen kaum ihres Zieles unſicherer ſein, als die Wahr-
nehmungen und Schlüſſe eines Leidenden dieſer Gattung.
Ich beſchwöre Sie, laſſen Sie ab von Ihren hypochondriſchen
Studien, ſuchen Sie lieber Ihre durch ein Uebermaß von
Arbeit erzürnten Nerven durch Müßiggang zu verſöhnen.

— Jetzt merkte ich erſt an den Mienen meines
Akademikers, daß er ſich einen Scherz mit mir erlaubt hatte.
Ich möchte, ſagte er, Sie umarmen, ſo freue ich mich, in
Ihren Anſichten die meinigen beſtätigt zu finden. Nur dieſe
herauszulocken, war es mir zu thun, denn ich ahnte, daß
auch Sie in dem Gebiete Erfahrungen haben. Als ich mich
darauf in Boxerpoſitur ſetzte und mit der Fauſt ſein Ganglien-
ſyſtem bedrohte, zog er ſich um Pardon bittend zurück und
nahm ein Blatt aus der Brieftaſche.

— Ich greife in die Leier, um den Zorn des britiſchen
Leoparden zu beſänftigen. Hierauf las er mir ſeine
„Ode an die Nerven“ vor, von welcher ich jetzt nur noch
wenig berichten kann. Das Geflecht der Nerven, in dem
unſer leibliches und geiſtiges Ich verſtrickt iſt, wurde mit
dem Netze des Knaben verglichen, in dem er Schmetterlinge
fängt, dann mit den Netzen, die dem Vogelſteller, dem
Fiſcher, der Spinne eine Quelle des Lebens und des Genuſſes
ſind. Sodann wurden die Nerven unſeres Erdballs, die
Telegraphen, betrachtet, die uns bald zum Leitfaden, bald

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[97/0111] IV. Hypochondriſche Studien — Ode an die Nerven. ſeinem ſonſtigen realen und idealen Elend noch mit dem Fluche der Lächerlichkeit beladen iſt und deſſen Freunde, deſſen Familie, ja deſſen Dienſtboten die Achſeln über ihn zucken. Das Schlimmſte bei alle dem iſt, daß der Gegenſtand der Beobachtung zugleich den Träger für das Medium derſelben bildet, mit anderen Worten, daß die Nerven das Gehirn beherrſchen, folglich Urtheilsvermögen, Gedächtniß, Stimmung und Alles, was damit zuſammenhängt, fortwährend be- einfluſſen. Wo ſoll unter ſolchen Umſtänden Klarheit und Gegenſtändlichkeit herkommen? Die Schüſſe eines Kanonen- bootes auf ſtürmiſch bewegter See und bei trüber Atmoſphäre mögen kaum ihres Zieles unſicherer ſein, als die Wahr- nehmungen und Schlüſſe eines Leidenden dieſer Gattung. Ich beſchwöre Sie, laſſen Sie ab von Ihren hypochondriſchen Studien, ſuchen Sie lieber Ihre durch ein Uebermaß von Arbeit erzürnten Nerven durch Müßiggang zu verſöhnen. — Jetzt merkte ich erſt an den Mienen meines Akademikers, daß er ſich einen Scherz mit mir erlaubt hatte. Ich möchte, ſagte er, Sie umarmen, ſo freue ich mich, in Ihren Anſichten die meinigen beſtätigt zu finden. Nur dieſe herauszulocken, war es mir zu thun, denn ich ahnte, daß auch Sie in dem Gebiete Erfahrungen haben. Als ich mich darauf in Boxerpoſitur ſetzte und mit der Fauſt ſein Ganglien- ſyſtem bedrohte, zog er ſich um Pardon bittend zurück und nahm ein Blatt aus der Brieftaſche. — Ich greife in die Leier, um den Zorn des britiſchen Leoparden zu beſänftigen. Hierauf las er mir ſeine „Ode an die Nerven“ vor, von welcher ich jetzt nur noch wenig berichten kann. Das Geflecht der Nerven, in dem unſer leibliches und geiſtiges Ich verſtrickt iſt, wurde mit dem Netze des Knaben verglichen, in dem er Schmetterlinge fängt, dann mit den Netzen, die dem Vogelſteller, dem Fiſcher, der Spinne eine Quelle des Lebens und des Genuſſes ſind. Sodann wurden die Nerven unſeres Erdballs, die Telegraphen, betrachtet, die uns bald zum Leitfaden, bald 7

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/111>, abgerufen am 21.11.2024.