zum Narrenseil werden, die Frieden, Krieg, Leben, Tod, Wahrheit, Lüge durch die Welt schleudern. Von Jahr zu Jahr spanne sich das unheimliche Gewebe weiter und weiter über unsren Planeten aus, ziehe seine Maschen enger und enger. Den Schluß machte ein sehr phantastisch ausgeführtes Bild des Welttreibens in tausend Jahren. --
In die von meinem akademischen Freunde mit dem Namen "Läuferwahnsinn" belegte Geisteskrankheit fallen nicht selten auch Badegäste und zwar eingeständlich "aus purer Langerweile", in der Meinung, weil ihre Muskeln sich bereit- willig dazu hergeben, daß auch ihre Nerven sich wohl dabei befänden. So laufen und laufen sie, Einigen gelingt es, eine kurze Weile der Langenweile zu entlaufen, Anderen bleibt sie hart auf den Fersen, was aber Allen sicher nach- folgt, ist die Strafe. Ihr Organismus würde es vielleicht dankbar aufgenommen haben, wenn sie dasselbe Maß von körperlicher Anstrengung erst nach längerer, stufenweise fort- schreitender Vorübung hätten eintreten lassen, so aber pro- testirt er dagegen, denn unsere Nerven lassen sich Manches abschmeicheln, abbitten, ablocken, selten jedoch etwas ab- trotzen, abjagen, mit Gewalt entreißen, wie das sehr ge- sunden, kräftigen Naturen gelingt, die dann ihr Verfahren als Schutz- und Heilmittel für Alle ansehen und anpreisen, geringschätzig auf jeden herabblickend, der es nicht wie sie macht.
Uebergänge aus langjährig gewohnter Lebensweise in eine neue, sei diese an sich noch so gut und zweckmäßig und jene noch so naturwidrig, pflegen, wenn sie schroff und plötzlich stattfinden, keineswegs immer, am seltensten im späteren Lebensalter, heilsam einzuwirken. Nicht selten ist es scheinbar der Fall: der Patient fühlt sich "wie neu- geboren" und glaubt seine alte Reizbarkeit und seinen Trüb- sinn ein für allemal beseitigt, früher oder später erfolgt aber der Rückschlag in eine Depression, tiefer als zuvor: -- ein
IV. Schroffe Uebergänge — Wie neu geboren.
zum Narrenſeil werden, die Frieden, Krieg, Leben, Tod, Wahrheit, Lüge durch die Welt ſchleudern. Von Jahr zu Jahr ſpanne ſich das unheimliche Gewebe weiter und weiter über unſren Planeten aus, ziehe ſeine Maſchen enger und enger. Den Schluß machte ein ſehr phantaſtiſch ausgeführtes Bild des Welttreibens in tauſend Jahren. —
In die von meinem akademiſchen Freunde mit dem Namen „Läuferwahnſinn“ belegte Geiſteskrankheit fallen nicht ſelten auch Badegäſte und zwar eingeſtändlich „aus purer Langerweile“, in der Meinung, weil ihre Muskeln ſich bereit- willig dazu hergeben, daß auch ihre Nerven ſich wohl dabei befänden. So laufen und laufen ſie, Einigen gelingt es, eine kurze Weile der Langenweile zu entlaufen, Anderen bleibt ſie hart auf den Ferſen, was aber Allen ſicher nach- folgt, iſt die Strafe. Ihr Organismus würde es vielleicht dankbar aufgenommen haben, wenn ſie daſſelbe Maß von körperlicher Anſtrengung erſt nach längerer, ſtufenweiſe fort- ſchreitender Vorübung hätten eintreten laſſen, ſo aber pro- teſtirt er dagegen, denn unſere Nerven laſſen ſich Manches abſchmeicheln, abbitten, ablocken, ſelten jedoch etwas ab- trotzen, abjagen, mit Gewalt entreißen, wie das ſehr ge- ſunden, kräftigen Naturen gelingt, die dann ihr Verfahren als Schutz- und Heilmittel für Alle anſehen und anpreiſen, geringſchätzig auf jeden herabblickend, der es nicht wie ſie macht.
Uebergänge aus langjährig gewohnter Lebensweiſe in eine neue, ſei dieſe an ſich noch ſo gut und zweckmäßig und jene noch ſo naturwidrig, pflegen, wenn ſie ſchroff und plötzlich ſtattfinden, keineswegs immer, am ſeltenſten im ſpäteren Lebensalter, heilſam einzuwirken. Nicht ſelten iſt es ſcheinbar der Fall: der Patient fühlt ſich „wie neu- geboren“ und glaubt ſeine alte Reizbarkeit und ſeinen Trüb- ſinn ein für allemal beſeitigt, früher oder ſpäter erfolgt aber der Rückſchlag in eine Depreſſion, tiefer als zuvor: — ein
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IV. Schroffe Uebergänge — Wie neu geboren.
zum Narrenſeil werden, die Frieden, Krieg, Leben, Tod,
Wahrheit, Lüge durch die Welt ſchleudern. Von Jahr zu Jahr
ſpanne ſich das unheimliche Gewebe weiter und weiter über
unſren Planeten aus, ziehe ſeine Maſchen enger und enger.
Den Schluß machte ein ſehr phantaſtiſch ausgeführtes Bild
des Welttreibens in tauſend Jahren. —
In die von meinem akademiſchen Freunde mit dem
Namen „Läuferwahnſinn“ belegte Geiſteskrankheit fallen nicht
ſelten auch Badegäſte und zwar eingeſtändlich „aus purer
Langerweile“, in der Meinung, weil ihre Muskeln ſich bereit-
willig dazu hergeben, daß auch ihre Nerven ſich wohl dabei
befänden. So laufen und laufen ſie, Einigen gelingt es,
eine kurze Weile der Langenweile zu entlaufen, Anderen
bleibt ſie hart auf den Ferſen, was aber Allen ſicher nach-
folgt, iſt die Strafe. Ihr Organismus würde es vielleicht
dankbar aufgenommen haben, wenn ſie daſſelbe Maß von
körperlicher Anſtrengung erſt nach längerer, ſtufenweiſe fort-
ſchreitender Vorübung hätten eintreten laſſen, ſo aber pro-
teſtirt er dagegen, denn unſere Nerven laſſen ſich Manches
abſchmeicheln, abbitten, ablocken, ſelten jedoch etwas ab-
trotzen, abjagen, mit Gewalt entreißen, wie das ſehr ge-
ſunden, kräftigen Naturen gelingt, die dann ihr Verfahren
als Schutz- und Heilmittel für Alle anſehen und anpreiſen,
geringſchätzig auf jeden herabblickend, der es nicht wie
ſie macht.
Uebergänge aus langjährig gewohnter Lebensweiſe
in eine neue, ſei dieſe an ſich noch ſo gut und zweckmäßig
und jene noch ſo naturwidrig, pflegen, wenn ſie ſchroff
und plötzlich ſtattfinden, keineswegs immer, am ſeltenſten
im ſpäteren Lebensalter, heilſam einzuwirken. Nicht ſelten
iſt es ſcheinbar der Fall: der Patient fühlt ſich „wie neu-
geboren“ und glaubt ſeine alte Reizbarkeit und ſeinen Trüb-
ſinn ein für allemal beſeitigt, früher oder ſpäter erfolgt aber
der Rückſchlag in eine Depreſſion, tiefer als zuvor: — ein
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/112>, abgerufen am 16.02.2025.
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