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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Reisequecksilber -- Spielart von Tourist u. Curgast -- Fahrsucht.
fügen sich noch positiven Schaden zu. So oft auch sonst den
Arzt ein Vorwurf treffen, es wenigstens zweifelhaft sein mag,
ob er, die Krankheit oder der Kranke die Hauptschuld am Miß-
erfolg der Behandlung trägt, dies ist einer der Fälle, in denen
die Aerzte von jeglicher Verschuldung freizusprechen sind.
Denn die Annalen der Medicin wissen nichts davon, daß je
ein Doctor das Reisequecksilber in der Dosis verordnet
hätte, in welcher es von Gesundheitstouristen so oft ein-
genommen wird, im Gegentheil heißt es immer: "aber, thun
Sie des Guten nicht zu viel!" An tugendhaften Vorsätzen
der Art fehlt es zwar bei der Abreise nie, offenbar können
diese Vorsätze jedoch den Transport nicht vertragen, oder,
wie die Franzosen von gewissen feurigen Weinsorten sagen:
"sie reisen nicht." Die Rheinlande, die Walddistricte, die
Alpen wimmeln im Sommer, die Küstenstriche des Mittel-
meers
im Winter von solchen Reisecurgästen, einer patho-
logisch interessanten Spielart von Tourist und Cur-
gast
, die unsere volle Aufmerksamkeit verdient. In der That
scheint ihnen das Reisequecksilber dermaßen in den Gliedern
zu stecken, daß sie weder gehen, noch stehen, noch liegen können
-- fahren müssen sie, unablässig fahren, fahren und fahren!

Die Fahrsucht ist im Grunde nur eine andere Form
des Läuferwahnsinns (vergl. S. 94), minder lebensgefähr-
lich zwar als er, aber noch unglücklicher, denn sie verfehlt
ihren Zweck, Fernhaltung der Langenweile, noch weit gründ-
licher: -- es leuchtet ein, daß die Abwechslung, wenn sie
constant wird, zur Eintönigkeit ausarten muß. Schon das
Alterthum kannte diese Krankheitsform, oder richtiger gesagt
dieses Laster, denn Horaz (Brief 11 an Bullaz) spottet:

Jagend dahin über Meer, verändern sie Luft, doch nicht Stimmung.
Nichtsthun wird uns zur Arbeit. Auf Viergespannen und Schiffen
Strebt man umsonst nach Genuß.

Die Monotonie des steten Wechsels lastet um so schwerer auf
dem Gemüthe, als sie ihm an die Stelle der Hoffnung und
der Sehnsucht die Enttäuschung setzt. Wenn man doch nur die

V. Reiſequeckſilber — Spielart von Touriſt u. Curgaſt — Fahrſucht.
fügen ſich noch poſitiven Schaden zu. So oft auch ſonſt den
Arzt ein Vorwurf treffen, es wenigſtens zweifelhaft ſein mag,
ob er, die Krankheit oder der Kranke die Hauptſchuld am Miß-
erfolg der Behandlung trägt, dies iſt einer der Fälle, in denen
die Aerzte von jeglicher Verſchuldung freizuſprechen ſind.
Denn die Annalen der Medicin wiſſen nichts davon, daß je
ein Doctor das Reiſequeckſilber in der Doſis verordnet
hätte, in welcher es von Geſundheitstouriſten ſo oft ein-
genommen wird, im Gegentheil heißt es immer: „aber, thun
Sie des Guten nicht zu viel!“ An tugendhaften Vorſätzen
der Art fehlt es zwar bei der Abreiſe nie, offenbar können
dieſe Vorſätze jedoch den Transport nicht vertragen, oder,
wie die Franzoſen von gewiſſen feurigen Weinſorten ſagen:
„ſie reiſen nicht.“ Die Rheinlande, die Walddiſtricte, die
Alpen wimmeln im Sommer, die Küſtenſtriche des Mittel-
meers
im Winter von ſolchen Reiſecurgäſten, einer patho-
logiſch intereſſanten Spielart von Touriſt und Cur-
gaſt
, die unſere volle Aufmerkſamkeit verdient. In der That
ſcheint ihnen das Reiſequeckſilber dermaßen in den Gliedern
zu ſtecken, daß ſie weder gehen, noch ſtehen, noch liegen können
— fahren müſſen ſie, unabläſſig fahren, fahren und fahren!

Die Fahrſucht iſt im Grunde nur eine andere Form
des Läuferwahnſinns (vergl. S. 94), minder lebensgefähr-
lich zwar als er, aber noch unglücklicher, denn ſie verfehlt
ihren Zweck, Fernhaltung der Langenweile, noch weit gründ-
licher: — es leuchtet ein, daß die Abwechslung, wenn ſie
conſtant wird, zur Eintönigkeit ausarten muß. Schon das
Alterthum kannte dieſe Krankheitsform, oder richtiger geſagt
dieſes Laſter, denn Horaz (Brief 11 an Bullaz) ſpottet:

Jagend dahin über Meer, verändern ſie Luft, doch nicht Stimmung.
Nichtsthun wird uns zur Arbeit. Auf Viergeſpannen und Schiffen
Strebt man umſonſt nach Genuß.

Die Monotonie des ſteten Wechſels laſtet um ſo ſchwerer auf
dem Gemüthe, als ſie ihm an die Stelle der Hoffnung und
der Sehnſucht die Enttäuſchung ſetzt. Wenn man doch nur die

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[127/0141] V. Reiſequeckſilber — Spielart von Touriſt u. Curgaſt — Fahrſucht. fügen ſich noch poſitiven Schaden zu. So oft auch ſonſt den Arzt ein Vorwurf treffen, es wenigſtens zweifelhaft ſein mag, ob er, die Krankheit oder der Kranke die Hauptſchuld am Miß- erfolg der Behandlung trägt, dies iſt einer der Fälle, in denen die Aerzte von jeglicher Verſchuldung freizuſprechen ſind. Denn die Annalen der Medicin wiſſen nichts davon, daß je ein Doctor das Reiſequeckſilber in der Doſis verordnet hätte, in welcher es von Geſundheitstouriſten ſo oft ein- genommen wird, im Gegentheil heißt es immer: „aber, thun Sie des Guten nicht zu viel!“ An tugendhaften Vorſätzen der Art fehlt es zwar bei der Abreiſe nie, offenbar können dieſe Vorſätze jedoch den Transport nicht vertragen, oder, wie die Franzoſen von gewiſſen feurigen Weinſorten ſagen: „ſie reiſen nicht.“ Die Rheinlande, die Walddiſtricte, die Alpen wimmeln im Sommer, die Küſtenſtriche des Mittel- meers im Winter von ſolchen Reiſecurgäſten, einer patho- logiſch intereſſanten Spielart von Touriſt und Cur- gaſt, die unſere volle Aufmerkſamkeit verdient. In der That ſcheint ihnen das Reiſequeckſilber dermaßen in den Gliedern zu ſtecken, daß ſie weder gehen, noch ſtehen, noch liegen können — fahren müſſen ſie, unabläſſig fahren, fahren und fahren! Die Fahrſucht iſt im Grunde nur eine andere Form des Läuferwahnſinns (vergl. S. 94), minder lebensgefähr- lich zwar als er, aber noch unglücklicher, denn ſie verfehlt ihren Zweck, Fernhaltung der Langenweile, noch weit gründ- licher: — es leuchtet ein, daß die Abwechslung, wenn ſie conſtant wird, zur Eintönigkeit ausarten muß. Schon das Alterthum kannte dieſe Krankheitsform, oder richtiger geſagt dieſes Laſter, denn Horaz (Brief 11 an Bullaz) ſpottet: Jagend dahin über Meer, verändern ſie Luft, doch nicht Stimmung. Nichtsthun wird uns zur Arbeit. Auf Viergeſpannen und Schiffen Strebt man umſonſt nach Genuß. Die Monotonie des ſteten Wechſels laſtet um ſo ſchwerer auf dem Gemüthe, als ſie ihm an die Stelle der Hoffnung und der Sehnſucht die Enttäuſchung ſetzt. Wenn man doch nur die

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/141>, abgerufen am 24.11.2024.