Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.V. Zur Diät der Seele. Eurer Hoffnungen allzu hoch in den blauen Aether fliegen unddie irdischen Dinge Euren Augen entschwinden, so öffnet ein Ventil und laßt Gas ausströmen. Noch mehr noth thut's aber andrerseits, jenen Mühseligen und Beladenen, von denen vorhin die Rede war, eine Mahnung zu wiederholen: so oft Ihr Euch auf Grübeleien über Euer Leiden und den möglichen Mißerfolg der Behandlung ertappt, gebt zunächst ungesäumt Euren Händen und Augen eine bestimmte Thätig- keit, die Gedanken werden dann schon allmählich folgen. Die Hoffnung, die Lebensluft unsrer Seele, läßt sich freilich nicht rufen, wir alle jedoch, auch Erzhypochonder, sind glücklicher- weise so organisirt, daß sie früher oder später unvermerkt zurückkehrt, sobald wir nur aufhören, sie durch Selbstquäle- reien zu verscheuchen. Darum beschäftigt Euch, ist's vor der Abreise, mit den Vorbereitungen, und ist's im Badeort selbst und nichts Besseres zur Hand, mit den kleinen Obliegenheiten des Tagewerks recht eifrig, als ob's wichtige Dinge wären. Das vorliegende Buch will Anleitung dazu geben, und sein Verfasser würde sich glücklich schätzen, wenn ihm das hier und da gelungen wäre. Er hat selbst lange in verschieden- artigen Curorten verweilt, mit Leidenden aller Art und vielen, vielen (!) Aerzten verkehrt und gesehen, wie mancher scheinbar rettungslose Fall doch noch Heilung fand, er war selbst lange Zeit sehr elend und gelangte doch endlich zu einem ganz er- träglichen Zustand, darf also Allen, die da auszogen, um Genesung zu suchen, diese nicht so rasch, als sie hofften, herankommen sehen und nun ungeduldig und traurig werden, mit Shakespeare zurufen:
Unsren schönen Leserinnen, wenn sie ihrem kränklichen V. Zur Diät der Seele. Eurer Hoffnungen allzu hoch in den blauen Aether fliegen unddie irdiſchen Dinge Euren Augen entſchwinden, ſo öffnet ein Ventil und laßt Gas ausſtrömen. Noch mehr noth thut’s aber andrerſeits, jenen Mühſeligen und Beladenen, von denen vorhin die Rede war, eine Mahnung zu wiederholen: ſo oft Ihr Euch auf Grübeleien über Euer Leiden und den möglichen Mißerfolg der Behandlung ertappt, gebt zunächſt ungeſäumt Euren Händen und Augen eine beſtimmte Thätig- keit, die Gedanken werden dann ſchon allmählich folgen. Die Hoffnung, die Lebensluft unſrer Seele, läßt ſich freilich nicht rufen, wir alle jedoch, auch Erzhypochonder, ſind glücklicher- weiſe ſo organiſirt, daß ſie früher oder ſpäter unvermerkt zurückkehrt, ſobald wir nur aufhören, ſie durch Selbſtquäle- reien zu verſcheuchen. Darum beſchäftigt Euch, iſt’s vor der Abreiſe, mit den Vorbereitungen, und iſt’s im Badeort ſelbſt und nichts Beſſeres zur Hand, mit den kleinen Obliegenheiten des Tagewerks recht eifrig, als ob’s wichtige Dinge wären. Das vorliegende Buch will Anleitung dazu geben, und ſein Verfaſſer würde ſich glücklich ſchätzen, wenn ihm das hier und da gelungen wäre. Er hat ſelbſt lange in verſchieden- artigen Curorten verweilt, mit Leidenden aller Art und vielen, vielen (!) Aerzten verkehrt und geſehen, wie mancher ſcheinbar rettungsloſe Fall doch noch Heilung fand, er war ſelbſt lange Zeit ſehr elend und gelangte doch endlich zu einem ganz er- träglichen Zuſtand, darf alſo Allen, die da auszogen, um Geneſung zu ſuchen, dieſe nicht ſo raſch, als ſie hofften, herankommen ſehen und nun ungeduldig und traurig werden, mit Shakeſpeare zurufen:
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V. Zur Diät der Seele.
Eurer Hoffnungen allzu hoch in den blauen Aether fliegen und
die irdiſchen Dinge Euren Augen entſchwinden, ſo öffnet ein
Ventil und laßt Gas ausſtrömen. Noch mehr noth thut’s
aber andrerſeits, jenen Mühſeligen und Beladenen, von
denen vorhin die Rede war, eine Mahnung zu wiederholen:
ſo oft Ihr Euch auf Grübeleien über Euer Leiden und den
möglichen Mißerfolg der Behandlung ertappt, gebt zunächſt
ungeſäumt Euren Händen und Augen eine beſtimmte Thätig-
keit, die Gedanken werden dann ſchon allmählich folgen. Die
Hoffnung, die Lebensluft unſrer Seele, läßt ſich freilich nicht
rufen, wir alle jedoch, auch Erzhypochonder, ſind glücklicher-
weiſe ſo organiſirt, daß ſie früher oder ſpäter unvermerkt
zurückkehrt, ſobald wir nur aufhören, ſie durch Selbſtquäle-
reien zu verſcheuchen. Darum beſchäftigt Euch, iſt’s vor der
Abreiſe, mit den Vorbereitungen, und iſt’s im Badeort ſelbſt
und nichts Beſſeres zur Hand, mit den kleinen Obliegenheiten
des Tagewerks recht eifrig, als ob’s wichtige Dinge wären.
Das vorliegende Buch will Anleitung dazu geben, und ſein
Verfaſſer würde ſich glücklich ſchätzen, wenn ihm das hier
und da gelungen wäre. Er hat ſelbſt lange in verſchieden-
artigen Curorten verweilt, mit Leidenden aller Art und vielen,
vielen (!) Aerzten verkehrt und geſehen, wie mancher ſcheinbar
rettungsloſe Fall doch noch Heilung fand, er war ſelbſt lange
Zeit ſehr elend und gelangte doch endlich zu einem ganz er-
träglichen Zuſtand, darf alſo Allen, die da auszogen, um
Geneſung zu ſuchen, dieſe nicht ſo raſch, als ſie hofften,
herankommen ſehen und nun ungeduldig und traurig werden,
mit Shakeſpeare zurufen:
Wie arm ſind die, die nicht Geduld beſitzen,
Wie heilten Wunden, als nur nach und nach?
Unſren ſchönen Leſerinnen, wenn ſie ihrem kränklichen
Oheim zum Geburtstag eine Reiſetaſche verehren wollen, ſei
hiermit gerathen, ſtatt der üblichen Roſen und Vergißmein-
nichtigkeiten jenes oder ein anderes Wort, das Geduld
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