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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Eine Pensionsmutter.
Gefallen daran finden, wer will, nach meinem Geschmacke
ist es nicht.

Wollte ich einen Roman schreiben, so würde ich den
Schauplatz in die Pension verlegen, in der ich einst einen
Winter zubrachte, die Besitzerin, ihre Tochter und einige
meiner Hausgenossen auftreten lassen, und hätte guten Stoff
für drei Bände, ich brauchte nur zu berichten, nichts zu er-
finden. Das wäre jedoch gegen unsre Verabredung, der-
zufolge ich die Zeit zu Rathe halten soll für Mittheilung der
nüchternen, praktischen Dinge, denen unser Buch gewidmet
ist, und in höhere, schönere Regionen nur gelegentliche Blicke
thun darf. So mag denn blos erzählt werden, wie ich die
erste Bekanntschaft dort machte, weil sie ein Streiflicht wirft
auf den geselligen Ton, der in einem Hause der Art herrschen
kann, wenn die Persönlichkeit, die dem Ganzen vorsteht,
gewisse Eigenschaften vereinigt. Ob eine solche wirklich blos
bessere Elemente der Gesellschaft in geheimnißvoller Weise
anzieht oder ob sie versteht, aus gewöhnlichen Durchschnitts-
menschen ihre besten Regungen hervorzulocken und zu ent-
wickeln, oder ob Alles nur ein günstiger Zufall war, darüber
mag Jeder nach seinen Erfahrungen und seiner Betrachtungs-
weise urtheilen, ich kann nur sagen, die Zeit, die ich in
dem Hause zubrachte, hat mich darüber belehrt, daß es noch
"glückliche Inseln im stürmischen, klippenreichen Ocean des
Lebens" gibt.

In meiner Pension kam ich um Mitternacht an und
vergaß in meiner Ermüdung die Rücksichten der Nächstenliebe
dermaßen, daß durch meine Nagelschuhe und den Alpenstock
Gepolter entstand und meinem Stubennachbar -- Alles
dies erfuhr ich erst, nachdem ich längst in dem Manne einen
Freund gefunden -- dadurch die ganze Nacht verdorben war.
Es war ein Landschaftsmaler, der an Kopfschmerz und
Schlaflosigkeit litt. Am andern Morgen hatte der Aermste
sein Leid der Hausfrau geklagt und verlangt, daß entweder
er oder ich ausquartiert werde, diese ihn jedoch gebeten, die

V. Eine Penſionsmutter.
Gefallen daran finden, wer will, nach meinem Geſchmacke
iſt es nicht.

Wollte ich einen Roman ſchreiben, ſo würde ich den
Schauplatz in die Penſion verlegen, in der ich einſt einen
Winter zubrachte, die Beſitzerin, ihre Tochter und einige
meiner Hausgenoſſen auftreten laſſen, und hätte guten Stoff
für drei Bände, ich brauchte nur zu berichten, nichts zu er-
finden. Das wäre jedoch gegen unſre Verabredung, der-
zufolge ich die Zeit zu Rathe halten ſoll für Mittheilung der
nüchternen, praktiſchen Dinge, denen unſer Buch gewidmet
iſt, und in höhere, ſchönere Regionen nur gelegentliche Blicke
thun darf. So mag denn blos erzählt werden, wie ich die
erſte Bekanntſchaft dort machte, weil ſie ein Streiflicht wirft
auf den geſelligen Ton, der in einem Hauſe der Art herrſchen
kann, wenn die Perſönlichkeit, die dem Ganzen vorſteht,
gewiſſe Eigenſchaften vereinigt. Ob eine ſolche wirklich blos
beſſere Elemente der Geſellſchaft in geheimnißvoller Weiſe
anzieht oder ob ſie verſteht, aus gewöhnlichen Durchſchnitts-
menſchen ihre beſten Regungen hervorzulocken und zu ent-
wickeln, oder ob Alles nur ein günſtiger Zufall war, darüber
mag Jeder nach ſeinen Erfahrungen und ſeiner Betrachtungs-
weiſe urtheilen, ich kann nur ſagen, die Zeit, die ich in
dem Hauſe zubrachte, hat mich darüber belehrt, daß es noch
„glückliche Inſeln im ſtürmiſchen, klippenreichen Ocean des
Lebens“ gibt.

In meiner Penſion kam ich um Mitternacht an und
vergaß in meiner Ermüdung die Rückſichten der Nächſtenliebe
dermaßen, daß durch meine Nagelſchuhe und den Alpenſtock
Gepolter entſtand und meinem Stubennachbar — Alles
dies erfuhr ich erſt, nachdem ich längſt in dem Manne einen
Freund gefunden — dadurch die ganze Nacht verdorben war.
Es war ein Landſchaftsmaler, der an Kopfſchmerz und
Schlafloſigkeit litt. Am andern Morgen hatte der Aermſte
ſein Leid der Hausfrau geklagt und verlangt, daß entweder
er oder ich ausquartiert werde, dieſe ihn jedoch gebeten, die

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[144/0158] V. Eine Penſionsmutter. Gefallen daran finden, wer will, nach meinem Geſchmacke iſt es nicht. Wollte ich einen Roman ſchreiben, ſo würde ich den Schauplatz in die Penſion verlegen, in der ich einſt einen Winter zubrachte, die Beſitzerin, ihre Tochter und einige meiner Hausgenoſſen auftreten laſſen, und hätte guten Stoff für drei Bände, ich brauchte nur zu berichten, nichts zu er- finden. Das wäre jedoch gegen unſre Verabredung, der- zufolge ich die Zeit zu Rathe halten ſoll für Mittheilung der nüchternen, praktiſchen Dinge, denen unſer Buch gewidmet iſt, und in höhere, ſchönere Regionen nur gelegentliche Blicke thun darf. So mag denn blos erzählt werden, wie ich die erſte Bekanntſchaft dort machte, weil ſie ein Streiflicht wirft auf den geſelligen Ton, der in einem Hauſe der Art herrſchen kann, wenn die Perſönlichkeit, die dem Ganzen vorſteht, gewiſſe Eigenſchaften vereinigt. Ob eine ſolche wirklich blos beſſere Elemente der Geſellſchaft in geheimnißvoller Weiſe anzieht oder ob ſie verſteht, aus gewöhnlichen Durchſchnitts- menſchen ihre beſten Regungen hervorzulocken und zu ent- wickeln, oder ob Alles nur ein günſtiger Zufall war, darüber mag Jeder nach ſeinen Erfahrungen und ſeiner Betrachtungs- weiſe urtheilen, ich kann nur ſagen, die Zeit, die ich in dem Hauſe zubrachte, hat mich darüber belehrt, daß es noch „glückliche Inſeln im ſtürmiſchen, klippenreichen Ocean des Lebens“ gibt. In meiner Penſion kam ich um Mitternacht an und vergaß in meiner Ermüdung die Rückſichten der Nächſtenliebe dermaßen, daß durch meine Nagelſchuhe und den Alpenſtock Gepolter entſtand und meinem Stubennachbar — Alles dies erfuhr ich erſt, nachdem ich längſt in dem Manne einen Freund gefunden — dadurch die ganze Nacht verdorben war. Es war ein Landſchaftsmaler, der an Kopfſchmerz und Schlafloſigkeit litt. Am andern Morgen hatte der Aermſte ſein Leid der Hausfrau geklagt und verlangt, daß entweder er oder ich ausquartiert werde, dieſe ihn jedoch gebeten, die

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/158>, abgerufen am 21.11.2024.