Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.V. Zucht der Phantasie -- am Abgrunde -- Stundenplan. gestellte Regeln gelten im figürlichen Sinne auch hier. Jetiefer wir auf der unfreiwilligen Fahrt schon gerathen sind, je rascher zieht es uns abwärts, je mehr nehmen Willenskraft und Besinnung ab; aus eignem innern Impuls Einhalt zu thun, ist unmöglich, deshalb muß auch hier nach einer äußeren Hilfe gesucht werden. Wie dort mit Händen und Füßen, so trachten wir hier, mit den Gedanken und der Phan- tasie uns einzugraben in eine Stelle des geistigen Bodens, auf dem wir uns befinden, an irgend einen Gegenstand "das Herz zu hängen". Nur in einem Stücke wird jetzt anders verfahren: ist ein augenblicklicher Halt gefunden, so muß unver- weilt die neue Richtung eingeschlagen und, nicht rechts noch links blickend, eifrig verfolgt werden. Auf zahlreiche Rück- fälle in die alten Selbstquälereien und gemüthskränklichen Grübeleien müssen wir auf den ersten Schritten des Rückwegs jeden Augenblick gefaßt sein, je rascher aber in die neue Rich- tung wieder eingelenkt wird, je leichter geschieht es, denn die Fallgeschwindigkeit ist anfangs die geringste. Mit der Zeit ver- liert der verhängnißvolle Zug nach unten an dämonischer Gewalt, die gelähmte Willens- und Widerstandskraft dagegen erwacht und erstarkt. -- Die auch von einzelnen Aerzten ge- theilte Ansicht, daß melancholisch-hypochondrisches Wesen eine Folge des Cölibats sei, halte ich übrigens für eine Verwechs- lung von Ursache und Wirkung, und glaube, daß umgekehrt die Scheu, sich durch ein festes Band für's Leben zu binden, nur die Folge jenes Temperaments zu sein pflegt, weil es am Entschlusse zur Verehelichung hindert. Eine Wechselwirkung findet dann aber allerdings statt zwischen Beidem: der ein- same Wanderer ist auch in diesem Gebiete, wie in der Eis- region, mehr gefährdet, als der durch feste Bande (Familie) mit Welt und Leben verknüpfte. Auch für ihn gibt es indeß Mittel, sich vor dem Abgrunde zu retten, er mag nur um so eifriger danach suchen. -- Oft ist es gut, sich einen bestimmten Tages- und Stunden- 11
V. Zucht der Phantaſie — am Abgrunde — Stundenplan. geſtellte Regeln gelten im figürlichen Sinne auch hier. Jetiefer wir auf der unfreiwilligen Fahrt ſchon gerathen ſind, je raſcher zieht es uns abwärts, je mehr nehmen Willenskraft und Beſinnung ab; aus eignem innern Impuls Einhalt zu thun, iſt unmöglich, deshalb muß auch hier nach einer äußeren Hilfe geſucht werden. Wie dort mit Händen und Füßen, ſo trachten wir hier, mit den Gedanken und der Phan- taſie uns einzugraben in eine Stelle des geiſtigen Bodens, auf dem wir uns befinden, an irgend einen Gegenſtand „das Herz zu hängen“. Nur in einem Stücke wird jetzt anders verfahren: iſt ein augenblicklicher Halt gefunden, ſo muß unver- weilt die neue Richtung eingeſchlagen und, nicht rechts noch links blickend, eifrig verfolgt werden. Auf zahlreiche Rück- fälle in die alten Selbſtquälereien und gemüthskränklichen Grübeleien müſſen wir auf den erſten Schritten des Rückwegs jeden Augenblick gefaßt ſein, je raſcher aber in die neue Rich- tung wieder eingelenkt wird, je leichter geſchieht es, denn die Fallgeſchwindigkeit iſt anfangs die geringſte. Mit der Zeit ver- liert der verhängnißvolle Zug nach unten an dämoniſcher Gewalt, die gelähmte Willens- und Widerſtandskraft dagegen erwacht und erſtarkt. — Die auch von einzelnen Aerzten ge- theilte Anſicht, daß melancholiſch-hypochondriſches Weſen eine Folge des Cölibats ſei, halte ich übrigens für eine Verwechs- lung von Urſache und Wirkung, und glaube, daß umgekehrt die Scheu, ſich durch ein feſtes Band für’s Leben zu binden, nur die Folge jenes Temperaments zu ſein pflegt, weil es am Entſchluſſe zur Verehelichung hindert. Eine Wechſelwirkung findet dann aber allerdings ſtatt zwiſchen Beidem: der ein- ſame Wanderer iſt auch in dieſem Gebiete, wie in der Eis- region, mehr gefährdet, als der durch feſte Bande (Familie) mit Welt und Leben verknüpfte. Auch für ihn gibt es indeß Mittel, ſich vor dem Abgrunde zu retten, er mag nur um ſo eifriger danach ſuchen. — Oft iſt es gut, ſich einen beſtimmten Tages- und Stunden- 11
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V. Zucht der Phantaſie — am Abgrunde — Stundenplan.
geſtellte Regeln gelten im figürlichen Sinne auch hier. Je
tiefer wir auf der unfreiwilligen Fahrt ſchon gerathen ſind,
je raſcher zieht es uns abwärts, je mehr nehmen Willenskraft
und Beſinnung ab; aus eignem innern Impuls Einhalt zu
thun, iſt unmöglich, deshalb muß auch hier nach einer
äußeren Hilfe geſucht werden. Wie dort mit Händen und
Füßen, ſo trachten wir hier, mit den Gedanken und der Phan-
taſie uns einzugraben in eine Stelle des geiſtigen Bodens,
auf dem wir uns befinden, an irgend einen Gegenſtand „das
Herz zu hängen“. Nur in einem Stücke wird jetzt anders
verfahren: iſt ein augenblicklicher Halt gefunden, ſo muß unver-
weilt die neue Richtung eingeſchlagen und, nicht rechts noch
links blickend, eifrig verfolgt werden. Auf zahlreiche Rück-
fälle in die alten Selbſtquälereien und gemüthskränklichen
Grübeleien müſſen wir auf den erſten Schritten des Rückwegs
jeden Augenblick gefaßt ſein, je raſcher aber in die neue Rich-
tung wieder eingelenkt wird, je leichter geſchieht es, denn die
Fallgeſchwindigkeit iſt anfangs die geringſte. Mit der Zeit ver-
liert der verhängnißvolle Zug nach unten an dämoniſcher
Gewalt, die gelähmte Willens- und Widerſtandskraft dagegen
erwacht und erſtarkt. — Die auch von einzelnen Aerzten ge-
theilte Anſicht, daß melancholiſch-hypochondriſches Weſen eine
Folge des Cölibats ſei, halte ich übrigens für eine Verwechs-
lung von Urſache und Wirkung, und glaube, daß umgekehrt
die Scheu, ſich durch ein feſtes Band für’s Leben zu binden,
nur die Folge jenes Temperaments zu ſein pflegt, weil es am
Entſchluſſe zur Verehelichung hindert. Eine Wechſelwirkung
findet dann aber allerdings ſtatt zwiſchen Beidem: der ein-
ſame Wanderer iſt auch in dieſem Gebiete, wie in der Eis-
region, mehr gefährdet, als der durch feſte Bande (Familie)
mit Welt und Leben verknüpfte. Auch für ihn gibt es indeß
Mittel, ſich vor dem Abgrunde zu retten, er mag nur um ſo
eifriger danach ſuchen. —
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