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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VI. Nahrungssorgen -- Kampf um's Dasein.
Was der Kochkünstler mir sonst noch über die Materie ver-
rieth, lasse ich unberührt, um seinem Werke nicht vorzugreifen,
und hebe nur noch hervor, daß es untouristisch ist, in Spei-
sen, Cigarren, Kaffee, Wein etc. leidenschaftlicher Feinschmecker
zu sein. Der gerechte und vollkommene Tourist muß immer
Herr und Meister bleiben über seine küchenästhetischen An-
sprüche, sogar den Ekel nöthigenfalls unterdrücken können,
damit, wenn etwa sein Verhängniß ihn in ein Spaccio di
vino con cucina
oder eine spanische Possada schleudert, bittere
Nahrungssorgen ihn nicht ganz überwältigen. Um seine
touristische Erziehung nach der Seite vorzubereiten, ist eine
Reise z. B. in Thüringen oder dem Erzgebirge schon recht
geeignet.

Steigen wir jetzt aus den Regionen der Feinschmeckerei,
in denen wir uns schon zu lange aufhielten und verweich-
lichten, hinab in jene schauerlichen Tiefen, wo der Kampf
um's nackte Leben geführt wird, wo es sich um Befriedigung
des Hungers handelt. Einen Speisezettel gibt es da ent-
weder nicht, weil Niemand da ist, der ihn schreiben könnte,
oder es gibt einen, aber schon seine Schriftzüge sind für die
Augen, was die Gerichte selbst für Zähne und Magen, was
"junker Kampsprade" benannt ist, erweist sich als zähes
Ziegenbockfleisch und das "Beffstäck von Fülleh" stammt aus
den sehnigsten Theilen einer alten Kuh.

"Die Karte soll eine Wahrheit sein", versprach einst
Louis Philipp seinen Franzosen, allein es scheint, daß die
einzigen ehrlichen in der Welt die Landkarten sind, alle
übrigen dagegen, von den Spielkarten bis zu den constitutio-
nellen, Visiten- und Speisekarten, zu eitel Spiel und Täuschung
mißbraucht werden. Auch in sofern lügen die letzteren oft,
daß sie Gerichte aufführen, die nie vorhanden waren, in der
Kellnersprache "eben ausgegangen". Nie vorhanden finden
Sie leichtfertig behauptet? So trete ich den Beweis an,
durch Zeugen und Indicien. Zeugen: Maler N. und Bild-
hauer M., die seit Jahren in der Antica Trattoria del ...

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VI. Nahrungsſorgen — Kampf um’s Daſein.
Was der Kochkünſtler mir ſonſt noch über die Materie ver-
rieth, laſſe ich unberührt, um ſeinem Werke nicht vorzugreifen,
und hebe nur noch hervor, daß es untouriſtiſch iſt, in Spei-
ſen, Cigarren, Kaffee, Wein ꝛc. leidenſchaftlicher Feinſchmecker
zu ſein. Der gerechte und vollkommene Touriſt muß immer
Herr und Meiſter bleiben über ſeine küchenäſthetiſchen An-
ſprüche, ſogar den Ekel nöthigenfalls unterdrücken können,
damit, wenn etwa ſein Verhängniß ihn in ein Spaccio di
vino con cucina
oder eine ſpaniſche Poſſada ſchleudert, bittere
Nahrungsſorgen ihn nicht ganz überwältigen. Um ſeine
touriſtiſche Erziehung nach der Seite vorzubereiten, iſt eine
Reiſe z. B. in Thüringen oder dem Erzgebirge ſchon recht
geeignet.

Steigen wir jetzt aus den Regionen der Feinſchmeckerei,
in denen wir uns ſchon zu lange aufhielten und verweich-
lichten, hinab in jene ſchauerlichen Tiefen, wo der Kampf
um’s nackte Leben geführt wird, wo es ſich um Befriedigung
des Hungers handelt. Einen Speiſezettel gibt es da ent-
weder nicht, weil Niemand da iſt, der ihn ſchreiben könnte,
oder es gibt einen, aber ſchon ſeine Schriftzüge ſind für die
Augen, was die Gerichte ſelbſt für Zähne und Magen, was
„junker Kampsprade“ benannt iſt, erweiſt ſich als zähes
Ziegenbockfleiſch und das „Beffſtäck von Fülleh“ ſtammt aus
den ſehnigſten Theilen einer alten Kuh.

„Die Karte ſoll eine Wahrheit ſein“, verſprach einſt
Louis Philipp ſeinen Franzoſen, allein es ſcheint, daß die
einzigen ehrlichen in der Welt die Landkarten ſind, alle
übrigen dagegen, von den Spielkarten bis zu den conſtitutio-
nellen, Viſiten- und Speiſekarten, zu eitel Spiel und Täuſchung
mißbraucht werden. Auch in ſofern lügen die letzteren oft,
daß ſie Gerichte aufführen, die nie vorhanden waren, in der
Kellnerſprache „eben ausgegangen“. Nie vorhanden finden
Sie leichtfertig behauptet? So trete ich den Beweis an,
durch Zeugen und Indicien. Zeugen: Maler N. und Bild-
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[179/0193] VI. Nahrungsſorgen — Kampf um’s Daſein. Was der Kochkünſtler mir ſonſt noch über die Materie ver- rieth, laſſe ich unberührt, um ſeinem Werke nicht vorzugreifen, und hebe nur noch hervor, daß es untouriſtiſch iſt, in Spei- ſen, Cigarren, Kaffee, Wein ꝛc. leidenſchaftlicher Feinſchmecker zu ſein. Der gerechte und vollkommene Touriſt muß immer Herr und Meiſter bleiben über ſeine küchenäſthetiſchen An- ſprüche, ſogar den Ekel nöthigenfalls unterdrücken können, damit, wenn etwa ſein Verhängniß ihn in ein Spaccio di vino con cucina oder eine ſpaniſche Poſſada ſchleudert, bittere Nahrungsſorgen ihn nicht ganz überwältigen. Um ſeine touriſtiſche Erziehung nach der Seite vorzubereiten, iſt eine Reiſe z. B. in Thüringen oder dem Erzgebirge ſchon recht geeignet. Steigen wir jetzt aus den Regionen der Feinſchmeckerei, in denen wir uns ſchon zu lange aufhielten und verweich- lichten, hinab in jene ſchauerlichen Tiefen, wo der Kampf um’s nackte Leben geführt wird, wo es ſich um Befriedigung des Hungers handelt. Einen Speiſezettel gibt es da ent- weder nicht, weil Niemand da iſt, der ihn ſchreiben könnte, oder es gibt einen, aber ſchon ſeine Schriftzüge ſind für die Augen, was die Gerichte ſelbſt für Zähne und Magen, was „junker Kampsprade“ benannt iſt, erweiſt ſich als zähes Ziegenbockfleiſch und das „Beffſtäck von Fülleh“ ſtammt aus den ſehnigſten Theilen einer alten Kuh. „Die Karte ſoll eine Wahrheit ſein“, verſprach einſt Louis Philipp ſeinen Franzoſen, allein es ſcheint, daß die einzigen ehrlichen in der Welt die Landkarten ſind, alle übrigen dagegen, von den Spielkarten bis zu den conſtitutio- nellen, Viſiten- und Speiſekarten, zu eitel Spiel und Täuſchung mißbraucht werden. Auch in ſofern lügen die letzteren oft, daß ſie Gerichte aufführen, die nie vorhanden waren, in der Kellnerſprache „eben ausgegangen“. Nie vorhanden finden Sie leichtfertig behauptet? So trete ich den Beweis an, durch Zeugen und Indicien. Zeugen: Maler N. und Bild- hauer M., die ſeit Jahren in der Antica Trattoria del … 12*

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/193>, abgerufen am 21.11.2024.