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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VIII. Sammler und Sammlungen -- Excerpte.
Gegenständen ist nicht die Hauptsache, sondern der eigentliche
Reiz beruht im Aufspüren, Erlegen, Erlangen. Es gibt
leidenschaftliche Jäger, die kein Wildpret, und Angler, die
keine Fische essen. Ein großer Freund der Wahrheit, Lessing,
bekannte, daß ihm das Suchen und Streben danach lieber sei,
als die Wahrheit selbst. Findet sich nicht gleich etwas von
besonderer Anziehungskraft, so werde mit dem ersten Besten
angefangen, der Appetit kommt vielleicht im Essen. Zuletzt
läuft ja alles Lernen auf Sammeln hinaus. Wer eine Reise-
schilderung schreiben will, sammelt Beobachtungen nebst seinen
Gedanken und Empfindungen dabei, richtet seine Aufmerk-
samkeit auf alles, was dafür brauchbar scheint, und verhält
sich gleichgiltig oder abwehrend gegen das Uebrige.

Ich kenne einen alten Herrn, der seit Langem sich mit
englischer und deutscher Literatur beschäftigt, vorzüglich in
der Absicht, darin nach Schilderungen von Landschaften zu
suchen. Was er der Art findet, schreibt er aus, ordnet und
gruppirt die Bruchstücke nach seinem Sinne, nimmt die ganze
Collection mit auf jede seiner Reisen und versichert, daß alle
Naturscenen, welche die Wirklichkeit ihm vorführt, ihn an
diesen oder jenen Theil seiner Sammlung, und umgekehrt
jeder Theil derselben, den er zu Hause liest, an genossene
Naturschönheiten in der anregendsten Weise erinnere. Ge-
wissermaßen, sagt er, habe ich mir Poetenaugen geborgt,
die immer mit meinen Herzensempfindungen im Einklang
sind, weil ich jene mir nach diesen aussuchen kann, während
ich mich über die Citate in den Büchern, welche mir so oft
"Gefühlsrecepte" aufdrängen wollen, meistens ärgere.

In einer Winterpension waren verschiedene literarische
Excerpte unter den Damen Mode geworden und diese ver-
fuhren mit ihnen, wie Damen mit Moden verfahren, sehr
ernst und eifrig. Eine sammelte "Lichtstrahlen" über Musik,
eine andere über bildende Kunst, eine dritte charakteristische
Aussprüche über Dichter, eine vierte im Gebiete der Religion
und Psychologie, alle behandelten jedoch ihre Schätze ohne

VIII. Sammler und Sammlungen — Excerpte.
Gegenſtänden iſt nicht die Hauptſache, ſondern der eigentliche
Reiz beruht im Aufſpüren, Erlegen, Erlangen. Es gibt
leidenſchaftliche Jäger, die kein Wildpret, und Angler, die
keine Fiſche eſſen. Ein großer Freund der Wahrheit, Leſſing,
bekannte, daß ihm das Suchen und Streben danach lieber ſei,
als die Wahrheit ſelbſt. Findet ſich nicht gleich etwas von
beſonderer Anziehungskraft, ſo werde mit dem erſten Beſten
angefangen, der Appetit kommt vielleicht im Eſſen. Zuletzt
läuft ja alles Lernen auf Sammeln hinaus. Wer eine Reiſe-
ſchilderung ſchreiben will, ſammelt Beobachtungen nebſt ſeinen
Gedanken und Empfindungen dabei, richtet ſeine Aufmerk-
ſamkeit auf alles, was dafür brauchbar ſcheint, und verhält
ſich gleichgiltig oder abwehrend gegen das Uebrige.

Ich kenne einen alten Herrn, der ſeit Langem ſich mit
engliſcher und deutſcher Literatur beſchäftigt, vorzüglich in
der Abſicht, darin nach Schilderungen von Landſchaften zu
ſuchen. Was er der Art findet, ſchreibt er aus, ordnet und
gruppirt die Bruchſtücke nach ſeinem Sinne, nimmt die ganze
Collection mit auf jede ſeiner Reiſen und verſichert, daß alle
Naturſcenen, welche die Wirklichkeit ihm vorführt, ihn an
dieſen oder jenen Theil ſeiner Sammlung, und umgekehrt
jeder Theil derſelben, den er zu Hauſe lieſt, an genoſſene
Naturſchönheiten in der anregendſten Weiſe erinnere. Ge-
wiſſermaßen, ſagt er, habe ich mir Poetenaugen geborgt,
die immer mit meinen Herzensempfindungen im Einklang
ſind, weil ich jene mir nach dieſen ausſuchen kann, während
ich mich über die Citate in den Büchern, welche mir ſo oft
„Gefühlsrecepte“ aufdrängen wollen, meiſtens ärgere.

In einer Winterpenſion waren verſchiedene literariſche
Excerpte unter den Damen Mode geworden und dieſe ver-
fuhren mit ihnen, wie Damen mit Moden verfahren, ſehr
ernſt und eifrig. Eine ſammelte „Lichtſtrahlen“ über Muſik,
eine andere über bildende Kunſt, eine dritte charakteriſtiſche
Ausſprüche über Dichter, eine vierte im Gebiete der Religion
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[256/0270] VIII. Sammler und Sammlungen — Excerpte. Gegenſtänden iſt nicht die Hauptſache, ſondern der eigentliche Reiz beruht im Aufſpüren, Erlegen, Erlangen. Es gibt leidenſchaftliche Jäger, die kein Wildpret, und Angler, die keine Fiſche eſſen. Ein großer Freund der Wahrheit, Leſſing, bekannte, daß ihm das Suchen und Streben danach lieber ſei, als die Wahrheit ſelbſt. Findet ſich nicht gleich etwas von beſonderer Anziehungskraft, ſo werde mit dem erſten Beſten angefangen, der Appetit kommt vielleicht im Eſſen. Zuletzt läuft ja alles Lernen auf Sammeln hinaus. Wer eine Reiſe- ſchilderung ſchreiben will, ſammelt Beobachtungen nebſt ſeinen Gedanken und Empfindungen dabei, richtet ſeine Aufmerk- ſamkeit auf alles, was dafür brauchbar ſcheint, und verhält ſich gleichgiltig oder abwehrend gegen das Uebrige. Ich kenne einen alten Herrn, der ſeit Langem ſich mit engliſcher und deutſcher Literatur beſchäftigt, vorzüglich in der Abſicht, darin nach Schilderungen von Landſchaften zu ſuchen. Was er der Art findet, ſchreibt er aus, ordnet und gruppirt die Bruchſtücke nach ſeinem Sinne, nimmt die ganze Collection mit auf jede ſeiner Reiſen und verſichert, daß alle Naturſcenen, welche die Wirklichkeit ihm vorführt, ihn an dieſen oder jenen Theil ſeiner Sammlung, und umgekehrt jeder Theil derſelben, den er zu Hauſe lieſt, an genoſſene Naturſchönheiten in der anregendſten Weiſe erinnere. Ge- wiſſermaßen, ſagt er, habe ich mir Poetenaugen geborgt, die immer mit meinen Herzensempfindungen im Einklang ſind, weil ich jene mir nach dieſen ausſuchen kann, während ich mich über die Citate in den Büchern, welche mir ſo oft „Gefühlsrecepte“ aufdrängen wollen, meiſtens ärgere. In einer Winterpenſion waren verſchiedene literariſche Excerpte unter den Damen Mode geworden und dieſe ver- fuhren mit ihnen, wie Damen mit Moden verfahren, ſehr ernſt und eifrig. Eine ſammelte „Lichtſtrahlen“ über Muſik, eine andere über bildende Kunſt, eine dritte charakteriſtiſche Ausſprüche über Dichter, eine vierte im Gebiete der Religion und Pſychologie, alle behandelten jedoch ihre Schätze ohne

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/270>, abgerufen am 24.11.2024.