VIII. Ein anderer Kauz -- allein und abgetrennt -- Grübeleien.
-- Was der Mann sammelte, hat er mir nicht verrathen.
Einem anderen Sammler begegnete ich einst in Schlesien. Der Kauz hätte sich seit Jahren auf Zeitungen und Local- blätter geworfen, brachte aus jedem Kaffeehaus, das er be- suchte, einige alte Nummern mit, mochten sie auch noch so abscheulich aussehen, musterte sie durch, schnitt heraus, was ihm von öffentlichen und Privatanzeigen bemerkenswerth schien, rubricirte es, klebte es auf große Bogen, schrieb seine Bemerkungen hinzu, und unterhielt sich dabei allem Anscheine nach vortrefflich. Nach seinen Ausschnittarchiven zu urtheilen, mußte er ganze Riesengebirge von Blättern im Laufe der Zeit eingeheimst haben. Ob diese Thätigkeit noch eine andere Frucht als flüchtige Unterhaltung trug, weiß ich nicht, mir warf sie einige Tagebuchzeilen ab, deren Werth oder Unwerth zu beurtheilen ich anheimstelle. Ich schrieb den Abend in meine Merk- und Denkzettel: Allein und abgetrennt von Menschen und Dingen sein Leben zu verbringen, ist das Schlimmste. Lieber auf das Geringfügigste fallen, als gar nichts zu haben, woran wir unser Herz hängen, und das zu- gleich hinreichende Anziehungskraft besitzt, unsre Gedanken von Grübeleien und Grämeleien ablenken zu können. Das bessere Theil erwählt hat freilich Einer, der sich keine leere Spielerei aussucht.
Unser Interesse an einen unbedeutenden Gegenstand zu fesseln, scheint es in der That nur des Einen zu bedürfen: Mühe auf ihn zu verwenden und ihn unter unsren Händen wachsen zu sehen, wie ja auch Mütter die ihrer Kinder am meisten lieben, deren Pflege ihnen die größte Anstrengung kostet, mögen diese Kinder innerlich und äußerlich noch so mangelhaft ausgestattet sein. In manch andrem Gebiete läßt sich gleichfalls bemerken, daß das Auge, welches sich anhaltend und aufmerksam einem und demselben Objecte zuwendet, nicht selten einen verschönernden Blick gewinnt, hingegen müde und unlustig wird, wenn es flüchtig und rastlos umherschweift. Um die Abwechslung als einen Reiz zu empfinden, muß ihr
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VIII. Ein anderer Kauz — allein und abgetrennt — Grübeleien.
— Was der Mann ſammelte, hat er mir nicht verrathen.
Einem anderen Sammler begegnete ich einſt in Schleſien. Der Kauz hätte ſich ſeit Jahren auf Zeitungen und Local- blätter geworfen, brachte aus jedem Kaffeehaus, das er be- ſuchte, einige alte Nummern mit, mochten ſie auch noch ſo abſcheulich ausſehen, muſterte ſie durch, ſchnitt heraus, was ihm von öffentlichen und Privatanzeigen bemerkenswerth ſchien, rubricirte es, klebte es auf große Bogen, ſchrieb ſeine Bemerkungen hinzu, und unterhielt ſich dabei allem Anſcheine nach vortrefflich. Nach ſeinen Ausſchnittarchiven zu urtheilen, mußte er ganze Rieſengebirge von Blättern im Laufe der Zeit eingeheimſt haben. Ob dieſe Thätigkeit noch eine andere Frucht als flüchtige Unterhaltung trug, weiß ich nicht, mir warf ſie einige Tagebuchzeilen ab, deren Werth oder Unwerth zu beurtheilen ich anheimſtelle. Ich ſchrieb den Abend in meine Merk- und Denkzettel: Allein und abgetrennt von Menſchen und Dingen ſein Leben zu verbringen, iſt das Schlimmſte. Lieber auf das Geringfügigſte fallen, als gar nichts zu haben, woran wir unſer Herz hängen, und das zu- gleich hinreichende Anziehungskraft beſitzt, unſre Gedanken von Grübeleien und Grämeleien ablenken zu können. Das beſſere Theil erwählt hat freilich Einer, der ſich keine leere Spielerei ausſucht.
Unſer Intereſſe an einen unbedeutenden Gegenſtand zu feſſeln, ſcheint es in der That nur des Einen zu bedürfen: Mühe auf ihn zu verwenden und ihn unter unſren Händen wachſen zu ſehen, wie ja auch Mütter die ihrer Kinder am meiſten lieben, deren Pflege ihnen die größte Anſtrengung koſtet, mögen dieſe Kinder innerlich und äußerlich noch ſo mangelhaft ausgeſtattet ſein. In manch andrem Gebiete läßt ſich gleichfalls bemerken, daß das Auge, welches ſich anhaltend und aufmerkſam einem und demſelben Objecte zuwendet, nicht ſelten einen verſchönernden Blick gewinnt, hingegen müde und unluſtig wird, wenn es flüchtig und raſtlos umherſchweift. Um die Abwechslung als einen Reiz zu empfinden, muß ihr
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VIII. Ein anderer Kauz — allein und abgetrennt — Grübeleien.
— Was der Mann ſammelte, hat er mir nicht verrathen.
Einem anderen Sammler begegnete ich einſt in Schleſien.
Der Kauz hätte ſich ſeit Jahren auf Zeitungen und Local-
blätter geworfen, brachte aus jedem Kaffeehaus, das er be-
ſuchte, einige alte Nummern mit, mochten ſie auch noch ſo
abſcheulich ausſehen, muſterte ſie durch, ſchnitt heraus, was
ihm von öffentlichen und Privatanzeigen bemerkenswerth
ſchien, rubricirte es, klebte es auf große Bogen, ſchrieb ſeine
Bemerkungen hinzu, und unterhielt ſich dabei allem Anſcheine
nach vortrefflich. Nach ſeinen Ausſchnittarchiven zu urtheilen,
mußte er ganze Rieſengebirge von Blättern im Laufe der Zeit
eingeheimſt haben. Ob dieſe Thätigkeit noch eine andere
Frucht als flüchtige Unterhaltung trug, weiß ich nicht, mir
warf ſie einige Tagebuchzeilen ab, deren Werth oder Unwerth
zu beurtheilen ich anheimſtelle. Ich ſchrieb den Abend in
meine Merk- und Denkzettel: Allein und abgetrennt von
Menſchen und Dingen ſein Leben zu verbringen, iſt das
Schlimmſte. Lieber auf das Geringfügigſte fallen, als gar
nichts zu haben, woran wir unſer Herz hängen, und das zu-
gleich hinreichende Anziehungskraft beſitzt, unſre Gedanken
von Grübeleien und Grämeleien ablenken zu können. Das
beſſere Theil erwählt hat freilich Einer, der ſich keine leere
Spielerei ausſucht.
Unſer Intereſſe an einen unbedeutenden Gegenſtand
zu feſſeln, ſcheint es in der That nur des Einen zu bedürfen:
Mühe auf ihn zu verwenden und ihn unter unſren Händen
wachſen zu ſehen, wie ja auch Mütter die ihrer Kinder am
meiſten lieben, deren Pflege ihnen die größte Anſtrengung
koſtet, mögen dieſe Kinder innerlich und äußerlich noch ſo
mangelhaft ausgeſtattet ſein. In manch andrem Gebiete läßt
ſich gleichfalls bemerken, daß das Auge, welches ſich anhaltend
und aufmerkſam einem und demſelben Objecte zuwendet, nicht
ſelten einen verſchönernden Blick gewinnt, hingegen müde und
unluſtig wird, wenn es flüchtig und raſtlos umherſchweift.
Um die Abwechslung als einen Reiz zu empfinden, muß ihr
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/273>, abgerufen am 18.07.2024.
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