Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.
VIII. Steckenpferdezucht -- Zerstreuungsjäger -- pariser Ennui. eine gesammelte, nachdrückliche Thätigkeit vorausgegangensein, während die fortgesetzte Jagd auf Zerstreuung in die schlimmste aller Sammlungen ausläuft: eine Sammlung von Spirituosen im Leibe oder von Grillen und Schrullen, Ge- spinnsten und Dünsten im Kopfe. So sind denn auch auf der Reise die sogenannten "Steckenpferde" (über deren Zucht schon S. 157 und 230 gesprochen wurde), wie z. B. eben Sammlungen, bessere Vehikel, als alle Vierfüßler und Loco- motiven. Im Sentenzenstil ließe sich sagen: -- wollt Ihr Euch zerstreuen, so sammelt. Gewisse Zeitalter und große Luxusplätze liefern bündige Aehnlich ist es mit Badeorten. In allen, den großen und VIII. Steckenpferdezucht — Zerſtreuungsjäger — pariſer Ennui. eine geſammelte, nachdrückliche Thätigkeit vorausgegangenſein, während die fortgeſetzte Jagd auf Zerſtreuung in die ſchlimmſte aller Sammlungen ausläuft: eine Sammlung von Spirituoſen im Leibe oder von Grillen und Schrullen, Ge- ſpinnſten und Dünſten im Kopfe. So ſind denn auch auf der Reiſe die ſogenannten „Steckenpferde“ (über deren Zucht ſchon S. 157 und 230 geſprochen wurde), wie z. B. eben Sammlungen, beſſere Vehikel, als alle Vierfüßler und Loco- motiven. Im Sentenzenſtil ließe ſich ſagen: — wollt Ihr Euch zerſtreuen, ſo ſammelt. Gewiſſe Zeitalter und große Luxusplätze liefern bündige Aehnlich iſt es mit Badeorten. In allen, den großen und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0274" n="260"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Steckenpferdezucht — Zerſtreuungsjäger — pariſer Ennui.</fw><lb/> eine geſammelte, nachdrückliche Thätigkeit vorausgegangen<lb/> ſein, während die fortgeſetzte Jagd auf Zerſtreuung in die<lb/> ſchlimmſte aller Sammlungen ausläuft: eine Sammlung von<lb/> Spirituoſen im Leibe oder von Grillen und Schrullen, Ge-<lb/> ſpinnſten und Dünſten im Kopfe. So ſind denn auch auf<lb/> der Reiſe die ſogenannten „Steckenpferde“ (über deren Zucht<lb/> ſchon S. 157 und 230 geſprochen wurde), wie z. B. eben<lb/> Sammlungen, beſſere Vehikel, als alle Vierfüßler und Loco-<lb/> motiven. Im Sentenzenſtil ließe ſich ſagen: — wollt Ihr<lb/> Euch zerſtreuen, ſo ſammelt.</p><lb/> <p>Gewiſſe Zeitalter und große Luxusplätze liefern bündige<lb/> Beweiſe für alles das. Keine Stadt exiſtirt, in welcher man<lb/> größere Scheu vor Langerweile hat und die eine reichere<lb/> Mannigfaltigkeit von Waffen gegen ſie ſchmiedet und feil-<lb/> bietet, als <hi rendition="#g"><placeName>Paris</placeName></hi>, und — nirgend ſonſt hört und lieſt man<lb/> ſo viel jammern über Langeweile. An der Kriegsluſt (im<lb/> Vorbeigehen bemerkt, auch an der pariſer Duellwuth, die in der<lb/> Wirklichkeit faſt ebenſo heftig graſſirt, als in Comödien und<lb/> Romanen) gewiſſer Bevölkerungsſchichten hat auch eingeſtänd-<lb/> lich noch mehr, als die Ruhmſucht und der militäriſche Kitzel,<lb/> die Emotionsſucht Antheil. <placeName>Paris</placeName> langweilt ſich, was die<lb/> franzöſiſche Stiliſtik ohne Weiteres <hi rendition="#aq">„la <placeName>France</placeName> s’ennuie“</hi><lb/> ausdrückt. Darum muß die Welt mit Krieg überzogen wer-<lb/> den. <placeName>Paris</placeName> iſt der Kopf von <placeName>Frankreich</placeName>, <placeName>Frankreich</placeName> der Kopf<lb/> der Welt, dieſe muß ſich mithin fügen, wenn jener beſchließt.</p><lb/> <p>Aehnlich iſt es mit Badeorten. In allen, den großen und<lb/> kleinen, kann man zwar ſeufzen hören: „dieſes X Y Z iſt<lb/> doch ein langweiliges Neſt“, am häufigſten und im Tone<lb/> vollſter Ueberzeugung und tiefſter Entrüſtung glaube ich die<lb/> Klage aber gerade in den großen Modebädern vernommen zu<lb/> haben, die in der That das Menſchenmögliche thun, um<lb/> ihren hochverehrten <hi rendition="#aq">p. t.</hi> Gäſten alles das zu bieten, was in<lb/> der Welt für unterhaltend gilt: Spiel, Theater, Concerte,<lb/> Bälle, Schauſtellungen verſchiedenſter Art, Treibjagden, Wett-<lb/> rennen, Feuerwerke, Regatten, reizende Garten- und Park-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [260/0274]
VIII. Steckenpferdezucht — Zerſtreuungsjäger — pariſer Ennui.
eine geſammelte, nachdrückliche Thätigkeit vorausgegangen
ſein, während die fortgeſetzte Jagd auf Zerſtreuung in die
ſchlimmſte aller Sammlungen ausläuft: eine Sammlung von
Spirituoſen im Leibe oder von Grillen und Schrullen, Ge-
ſpinnſten und Dünſten im Kopfe. So ſind denn auch auf
der Reiſe die ſogenannten „Steckenpferde“ (über deren Zucht
ſchon S. 157 und 230 geſprochen wurde), wie z. B. eben
Sammlungen, beſſere Vehikel, als alle Vierfüßler und Loco-
motiven. Im Sentenzenſtil ließe ſich ſagen: — wollt Ihr
Euch zerſtreuen, ſo ſammelt.
Gewiſſe Zeitalter und große Luxusplätze liefern bündige
Beweiſe für alles das. Keine Stadt exiſtirt, in welcher man
größere Scheu vor Langerweile hat und die eine reichere
Mannigfaltigkeit von Waffen gegen ſie ſchmiedet und feil-
bietet, als Paris, und — nirgend ſonſt hört und lieſt man
ſo viel jammern über Langeweile. An der Kriegsluſt (im
Vorbeigehen bemerkt, auch an der pariſer Duellwuth, die in der
Wirklichkeit faſt ebenſo heftig graſſirt, als in Comödien und
Romanen) gewiſſer Bevölkerungsſchichten hat auch eingeſtänd-
lich noch mehr, als die Ruhmſucht und der militäriſche Kitzel,
die Emotionsſucht Antheil. Paris langweilt ſich, was die
franzöſiſche Stiliſtik ohne Weiteres „la France s’ennuie“
ausdrückt. Darum muß die Welt mit Krieg überzogen wer-
den. Paris iſt der Kopf von Frankreich, Frankreich der Kopf
der Welt, dieſe muß ſich mithin fügen, wenn jener beſchließt.
Aehnlich iſt es mit Badeorten. In allen, den großen und
kleinen, kann man zwar ſeufzen hören: „dieſes X Y Z iſt
doch ein langweiliges Neſt“, am häufigſten und im Tone
vollſter Ueberzeugung und tiefſter Entrüſtung glaube ich die
Klage aber gerade in den großen Modebädern vernommen zu
haben, die in der That das Menſchenmögliche thun, um
ihren hochverehrten p. t. Gäſten alles das zu bieten, was in
der Welt für unterhaltend gilt: Spiel, Theater, Concerte,
Bälle, Schauſtellungen verſchiedenſter Art, Treibjagden, Wett-
rennen, Feuerwerke, Regatten, reizende Garten- und Park-
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| Zitationshilfe: | Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/274>, abgerufen am 24.11.2024. |
