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Mill, John Stuart: Ueber Frauenemancipation. In: John Stuart Mill´s Gesammelte Werke. Leipzig, 1880. S. 1–29.

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Ueber Frauenemancipation.
Aber wenn die Ausschließung sich fast auf alles erstreckt, was die-
jenigen, die nicht von ihr betroffen sind, am höchsten schätzen und
dessen Entziehung sie als die größte Beleidigung empfinden, wenn nicht
nur die politische Freiheit, sondern auch die persönliche Freiheit des
Handelns das Vorrecht einer Kaste ist, wenn selbst in der Erwerbs-
thätigkeit fast alle Beschäftigungen, welche die höheren Fähigkeiten
auf irgend einem wichtigen Gebiete in Anspruch nehmen, welche zu
Auszeichnung, Reichthum oder auch nur zu materieller Unabhängig-
keit führen, als das ausschließliche Eigenthum der herrschenden Classe
allseitig umfriedet gehalten werden, während der abhängigen Classe
beinahe keine anderen Thüren offen bleiben als solche, denen Alle,
welche anderswo eintreten können, verächtlich den Rücken kehren;
dann sind die armseligen Zweckmäßigkeitsgründe, welche als Ent-
schuldigung für eine so ungeheuerlich parteiische Vertheilung vor-
gebracht werden, selbst wenn sie nicht völlig unhaltbar wären, nicht
im Stande, ihr den Charakter einer schreienden Ungerechtigkeit zu
nehmen. Jndessen sind wir der festen Ueberzeugung, daß die
Theilung der Menschheit in zwei Kasten, die eine durch die Geburt
dazu bestimmt die andere zu beherrschen, in diesem Falle wie in
jedem anderen nichts weniger als zweckdienlich, sondern ganz und
gar vom Uebel ist, - eine Quelle der Verderbniß und sittlichen
Entartung sowohl für die begünstigte Classe als für die, auf
deren Kosten sie bevorzugt ist; daß sie nichts von dem Guten her-
vorbringt, das man ihr gewöhnlich zuschreibt; und daß sie - so
lange sie besteht - ein fast unüberwindliches Hinderniß jeder wirk-
lich eingreifenden Verbesserung, sei es in den Charaktereigenschaften,
sei es in den socialen Zuständen des Menschengeschlechtes, bildet.

Es ist nun unsere Absicht diese Behauptungen zu erweisen;
aber ehe wir damit beginnen, möchten wir uns bemühen, die vor-
läufigen Einwendungen zu zerstreuen, welche bei Personen, denen
dieser Gegenstand neu ist, eine ernstliche und gewissenhafte Prüfung
desselben zu behindern pflegen. Das vornehmste dieser Hindernisse
ist die ungeheure Macht der Gewohnheit. Die Frauen haben
niemals gleiche Rechte wie die Männer besessen. Jhre Ansprüche
auf die gemeinsamen Menschenrechte gelten für beseitigt durch den
allgemeinen Brauch. Zwar hat dieses stärkste aller Vorurtheile,
das Vorurtheil gegen das Neue und Unbekannte, in einem Zeit-
alter der Neuerungen wie das unsrige viel von seiner Stärke ver-
loren; wäre dem nicht so, so bliebe wenig Hoffnung, etwas gegen
dasselbe auszurichten. Jn drei Viertheilen der bewohnbaren Welt
macht die Antwort: es ist immer so gewesen, noch heute jeder
Erörterung ein Ende. Aber es ist der Stolz der modernen

Ueber Frauenemancipation.
Aber wenn die Ausschließung sich fast auf alles erstreckt, was die-
jenigen, die nicht von ihr betroffen sind, am höchsten schätzen und
dessen Entziehung sie als die größte Beleidigung empfinden, wenn nicht
nur die politische Freiheit, sondern auch die persönliche Freiheit des
Handelns das Vorrecht einer Kaste ist, wenn selbst in der Erwerbs-
thätigkeit fast alle Beschäftigungen, welche die höheren Fähigkeiten
auf irgend einem wichtigen Gebiete in Anspruch nehmen, welche zu
Auszeichnung, Reichthum oder auch nur zu materieller Unabhängig-
keit führen, als das ausschließliche Eigenthum der herrschenden Classe
allseitig umfriedet gehalten werden, während der abhängigen Classe
beinahe keine anderen Thüren offen bleiben als solche, denen Alle,
welche anderswo eintreten können, verächtlich den Rücken kehren;
dann sind die armseligen Zweckmäßigkeitsgründe, welche als Ent-
schuldigung für eine so ungeheuerlich parteiische Vertheilung vor-
gebracht werden, selbst wenn sie nicht völlig unhaltbar wären, nicht
im Stande, ihr den Charakter einer schreienden Ungerechtigkeit zu
nehmen. Jndessen sind wir der festen Ueberzeugung, daß die
Theilung der Menschheit in zwei Kasten, die eine durch die Geburt
dazu bestimmt die andere zu beherrschen, in diesem Falle wie in
jedem anderen nichts weniger als zweckdienlich, sondern ganz und
gar vom Uebel ist, – eine Quelle der Verderbniß und sittlichen
Entartung sowohl für die begünstigte Classe als für die, auf
deren Kosten sie bevorzugt ist; daß sie nichts von dem Guten her-
vorbringt, das man ihr gewöhnlich zuschreibt; und daß sie – so
lange sie besteht – ein fast unüberwindliches Hinderniß jeder wirk-
lich eingreifenden Verbesserung, sei es in den Charaktereigenschaften,
sei es in den socialen Zuständen des Menschengeschlechtes, bildet.

Es ist nun unsere Absicht diese Behauptungen zu erweisen;
aber ehe wir damit beginnen, möchten wir uns bemühen, die vor-
läufigen Einwendungen zu zerstreuen, welche bei Personen, denen
dieser Gegenstand neu ist, eine ernstliche und gewissenhafte Prüfung
desselben zu behindern pflegen. Das vornehmste dieser Hindernisse
ist die ungeheure Macht der Gewohnheit. Die Frauen haben
niemals gleiche Rechte wie die Männer besessen. Jhre Ansprüche
auf die gemeinsamen Menschenrechte gelten für beseitigt durch den
allgemeinen Brauch. Zwar hat dieses stärkste aller Vorurtheile,
das Vorurtheil gegen das Neue und Unbekannte, in einem Zeit-
alter der Neuerungen wie das unsrige viel von seiner Stärke ver-
loren; wäre dem nicht so, so bliebe wenig Hoffnung, etwas gegen
dasselbe auszurichten. Jn drei Viertheilen der bewohnbaren Welt
macht die Antwort: es ist immer so gewesen, noch heute jeder
Erörterung ein Ende. Aber es ist der Stolz der modernen

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[6/0006] Ueber Frauenemancipation. Aber wenn die Ausschließung sich fast auf alles erstreckt, was die- jenigen, die nicht von ihr betroffen sind, am höchsten schätzen und dessen Entziehung sie als die größte Beleidigung empfinden, wenn nicht nur die politische Freiheit, sondern auch die persönliche Freiheit des Handelns das Vorrecht einer Kaste ist, wenn selbst in der Erwerbs- thätigkeit fast alle Beschäftigungen, welche die höheren Fähigkeiten auf irgend einem wichtigen Gebiete in Anspruch nehmen, welche zu Auszeichnung, Reichthum oder auch nur zu materieller Unabhängig- keit führen, als das ausschließliche Eigenthum der herrschenden Classe allseitig umfriedet gehalten werden, während der abhängigen Classe beinahe keine anderen Thüren offen bleiben als solche, denen Alle, welche anderswo eintreten können, verächtlich den Rücken kehren; dann sind die armseligen Zweckmäßigkeitsgründe, welche als Ent- schuldigung für eine so ungeheuerlich parteiische Vertheilung vor- gebracht werden, selbst wenn sie nicht völlig unhaltbar wären, nicht im Stande, ihr den Charakter einer schreienden Ungerechtigkeit zu nehmen. Jndessen sind wir der festen Ueberzeugung, daß die Theilung der Menschheit in zwei Kasten, die eine durch die Geburt dazu bestimmt die andere zu beherrschen, in diesem Falle wie in jedem anderen nichts weniger als zweckdienlich, sondern ganz und gar vom Uebel ist, – eine Quelle der Verderbniß und sittlichen Entartung sowohl für die begünstigte Classe als für die, auf deren Kosten sie bevorzugt ist; daß sie nichts von dem Guten her- vorbringt, das man ihr gewöhnlich zuschreibt; und daß sie – so lange sie besteht – ein fast unüberwindliches Hinderniß jeder wirk- lich eingreifenden Verbesserung, sei es in den Charaktereigenschaften, sei es in den socialen Zuständen des Menschengeschlechtes, bildet. Es ist nun unsere Absicht diese Behauptungen zu erweisen; aber ehe wir damit beginnen, möchten wir uns bemühen, die vor- läufigen Einwendungen zu zerstreuen, welche bei Personen, denen dieser Gegenstand neu ist, eine ernstliche und gewissenhafte Prüfung desselben zu behindern pflegen. Das vornehmste dieser Hindernisse ist die ungeheure Macht der Gewohnheit. Die Frauen haben niemals gleiche Rechte wie die Männer besessen. Jhre Ansprüche auf die gemeinsamen Menschenrechte gelten für beseitigt durch den allgemeinen Brauch. Zwar hat dieses stärkste aller Vorurtheile, das Vorurtheil gegen das Neue und Unbekannte, in einem Zeit- alter der Neuerungen wie das unsrige viel von seiner Stärke ver- loren; wäre dem nicht so, so bliebe wenig Hoffnung, etwas gegen dasselbe auszurichten. Jn drei Viertheilen der bewohnbaren Welt macht die Antwort: es ist immer so gewesen, noch heute jeder Erörterung ein Ende. Aber es ist der Stolz der modernen

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Zitationshilfe: Mill, John Stuart: Ueber Frauenemancipation. In: John Stuart Mill´s Gesammelte Werke. Leipzig, 1880. S. 1–29, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mill_frauenemancipation_1880/6>, abgerufen am 03.12.2024.