Mill, John Stuart: Ueber Frauenemancipation. In: John Stuart Mill´s Gesammelte Werke. Leipzig, 1880. S. 1–29.Ueber Frauenemancipation. Europäer und ihrer amerikanischen Vettern, daß sie viele Dingekennen und thun, welche ihre Vorfahren weder kannten noch thaten; und unser Zeitalter ist vielleicht in keinem anderen Punkte früheren Epochen so unzweifelhaft überlegen als darin, daß die Gewohnheit nicht mehr dieselbe tyrannische Herrschaft über Meinungen und Handlungsweisen ausübt wie vordem, und daß die Verehrung des Althergebrachten ein in Abnahme begriffener Cultus ist. Ein un- gewohnter Gedanke über einen Gegenstand, der die wichtigeren Jnteressen des Lebens berührt, wirkt bei seinem ersten Auftreten noch immer befremdend und beunruhigend; wenn es jedoch gelingt ihn so lange lebendig zu erhalten, bis der Eindruck des Fremd- artigen schwindet, findet er Gehör und eine so vernunftgemäße Würdigung, als der Geist des Zuhörers irgend einem anderen Gegenstände zu widmen gewohnt ist. Jm vorliegenden Falle steht das Vorurtheil der Gewohnheit Daß diejenigen, welche physisch schwächer sind, sich auch im Ueber Frauenemancipation. Europäer und ihrer amerikanischen Vettern, daß sie viele Dingekennen und thun, welche ihre Vorfahren weder kannten noch thaten; und unser Zeitalter ist vielleicht in keinem anderen Punkte früheren Epochen so unzweifelhaft überlegen als darin, daß die Gewohnheit nicht mehr dieselbe tyrannische Herrschaft über Meinungen und Handlungsweisen ausübt wie vordem, und daß die Verehrung des Althergebrachten ein in Abnahme begriffener Cultus ist. Ein un- gewohnter Gedanke über einen Gegenstand, der die wichtigeren Jnteressen des Lebens berührt, wirkt bei seinem ersten Auftreten noch immer befremdend und beunruhigend; wenn es jedoch gelingt ihn so lange lebendig zu erhalten, bis der Eindruck des Fremd- artigen schwindet, findet er Gehör und eine so vernunftgemäße Würdigung, als der Geist des Zuhörers irgend einem anderen Gegenstände zu widmen gewohnt ist. 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Aber es<lb/> hat keine politische Gemeinschaft oder Nation gegeben, in der sich<lb/> nicht die Frauen durch Gesetz und Sitte in einer politisch wie bürger-<lb/> lich untergeordneten Stellung befunden hätten. Jn der alten Welt<lb/> wurde dieselbe Thatsache mit demselben Recht zu Gunsten der<lb/> Sclaverei angeführt. Sie hätte im ganzen Mittelalter zu Gunsten<lb/> jener gemilderten Form von Sclaverei, welche Hörigkeit hieß,<lb/> angeführt werden können. Sie wurde gegen die Gewerbefreiheit,<lb/> gegen die Gewissensfreiheit, gegen die Preßfreiheit angerufen;<lb/> keine von diesen Freiheiten wurde mit einem wohlgeordneten Staats-<lb/> wesen für verträglich gehalten, bis ihr wirkliches Vorhandensein<lb/> ihre Möglichkeit darthat. Daß eine Einrichtung oder ein Brauch<lb/> von Alters her besteht, ist kein Beweis für seine Güte, wenn ein<lb/> anderer zureichender Grund für sein Dasein angegeben werden<lb/> kann. Es ist gar nicht schwer zu verstehen, warum die Knechtschaft<lb/> der Frauen ein Herkommen geworden ist; es bedarf dafür keines<lb/> anderen Erklärungsgrundes als der physischen Stärke.</p><lb/> <p>Daß diejenigen, welche physisch schwächer sind, sich auch im<lb/> Zustande rechtlicher Jnferiorität befinden, entspricht ganz dem<lb/> Geist, in dem die Welt regiert worden ist. Bis vor ganz kurzer<lb/> Zeit war die Herrschaft der physischen Kraft das allgemeine Gesetz<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [7/0007]
Ueber Frauenemancipation.
Europäer und ihrer amerikanischen Vettern, daß sie viele Dinge
kennen und thun, welche ihre Vorfahren weder kannten noch thaten;
und unser Zeitalter ist vielleicht in keinem anderen Punkte früheren
Epochen so unzweifelhaft überlegen als darin, daß die Gewohnheit
nicht mehr dieselbe tyrannische Herrschaft über Meinungen
und Handlungsweisen ausübt wie vordem, und daß die Verehrung des
Althergebrachten ein in Abnahme begriffener Cultus ist. Ein un-
gewohnter Gedanke über einen Gegenstand, der die wichtigeren
Jnteressen des Lebens berührt, wirkt bei seinem ersten Auftreten
noch immer befremdend und beunruhigend; wenn es jedoch gelingt
ihn so lange lebendig zu erhalten, bis der Eindruck des Fremd-
artigen schwindet, findet er Gehör und eine so vernunftgemäße
Würdigung, als der Geist des Zuhörers irgend einem anderen
Gegenstände zu widmen gewohnt ist.
Jm vorliegenden Falle steht das Vorurtheil der Gewohnheit
ohne Zweifel auf der Seite des Unrechts. Zwar haben, außer
einigen der hervorragendsten Männer der Gegenwart, zu allen
Zeiten große Denker, von Plato bis auf Condorcet, in der nach-
drücklichsten Weise zu Gunsten der Gleichheit der Frauen ihre
Stimme erhoben, und es hat freiwillige Vereinigungen, geistliche
wie weltliche, unter denen die Gemeinschaft der Quäker die be-
kannteste ist, gegeben, welche diesen Grundsatz anerkannten. Aber es
hat keine politische Gemeinschaft oder Nation gegeben, in der sich
nicht die Frauen durch Gesetz und Sitte in einer politisch wie bürger-
lich untergeordneten Stellung befunden hätten. Jn der alten Welt
wurde dieselbe Thatsache mit demselben Recht zu Gunsten der
Sclaverei angeführt. Sie hätte im ganzen Mittelalter zu Gunsten
jener gemilderten Form von Sclaverei, welche Hörigkeit hieß,
angeführt werden können. Sie wurde gegen die Gewerbefreiheit,
gegen die Gewissensfreiheit, gegen die Preßfreiheit angerufen;
keine von diesen Freiheiten wurde mit einem wohlgeordneten Staats-
wesen für verträglich gehalten, bis ihr wirkliches Vorhandensein
ihre Möglichkeit darthat. Daß eine Einrichtung oder ein Brauch
von Alters her besteht, ist kein Beweis für seine Güte, wenn ein
anderer zureichender Grund für sein Dasein angegeben werden
kann. Es ist gar nicht schwer zu verstehen, warum die Knechtschaft
der Frauen ein Herkommen geworden ist; es bedarf dafür keines
anderen Erklärungsgrundes als der physischen Stärke.
Daß diejenigen, welche physisch schwächer sind, sich auch im
Zustande rechtlicher Jnferiorität befinden, entspricht ganz dem
Geist, in dem die Welt regiert worden ist. Bis vor ganz kurzer
Zeit war die Herrschaft der physischen Kraft das allgemeine Gesetz
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(2021-07-09T17:21:46Z)
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