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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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schauen seines Mädchens, sondern sucht sich mit
ihr auf ewig zu vermählen, um ihre Seele zu
besitzen. Doch weh dem Mann, der als Jüng-
ling die äussere Schönheit der Tugend nicht auch
tief gefühlt hat! Er wird selten, oder nie als
Mann für sie handeln!

Ein Pater, der an ihnen vorbeygieng, grüßte
sie mit Namen, und nannte unsern Siegwart,
Bruder Xaver. Ja, mein lieber Siegwart, sag-
te Anton, nun ists bald Zeit, wegen des Klosters einen
völligen Entschluß zu fassen, denn dein Vater -- laß
mich dich immer du nennen, ich liebe dich, wie meinen
Sohn -- dein Vater, denk ich, wird heut oder mor-
gen kommen, und dich abholen wollen; da müs-
sen wir ihm doch was gewisses sagen. Was
meynst du? Hat dirs hier gefallen? Glaubtest du
dein Leben als ein Kapuziner, das heißt als ein
Mann, der gröstentheils von der menschlichen Ge-
sellschaft abgesondert, dem Gelübd der Keuschheit,
des Gehorsams, und der Armuth unterthan, von
der Welt ungekannt, oder nur zu oft verkannt
und verachtet lebt, glaubst du dein Leben als ein
solcher hinbringen zu können, und doch innerlich
vergnügt und glücklich zu seyn?

G



ſchauen ſeines Maͤdchens, ſondern ſucht ſich mit
ihr auf ewig zu vermaͤhlen, um ihre Seele zu
beſitzen. Doch weh dem Mann, der als Juͤng-
ling die aͤuſſere Schoͤnheit der Tugend nicht auch
tief gefuͤhlt hat! Er wird ſelten, oder nie als
Mann fuͤr ſie handeln!

Ein Pater, der an ihnen vorbeygieng, gruͤßte
ſie mit Namen, und nannte unſern Siegwart,
Bruder Xaver. Ja, mein lieber Siegwart, ſag-
te Anton, nun iſts bald Zeit, wegen des Kloſters einen
voͤlligen Entſchluß zu faſſen, denn dein Vater — laß
mich dich immer du nennen, ich liebe dich, wie meinen
Sohn — dein Vater, denk ich, wird heut oder mor-
gen kommen, und dich abholen wollen; da muͤſ-
ſen wir ihm doch was gewiſſes ſagen. Was
meynſt du? Hat dirs hier gefallen? Glaubteſt du
dein Leben als ein Kapuziner, das heißt als ein
Mann, der groͤſtentheils von der menſchlichen Ge-
ſellſchaft abgeſondert, dem Geluͤbd der Keuſchheit,
des Gehorſams, und der Armuth unterthan, von
der Welt ungekannt, oder nur zu oft verkannt
und verachtet lebt, glaubſt du dein Leben als ein
ſolcher hinbringen zu koͤnnen, und doch innerlich
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[97/0101] ſchauen ſeines Maͤdchens, ſondern ſucht ſich mit ihr auf ewig zu vermaͤhlen, um ihre Seele zu beſitzen. Doch weh dem Mann, der als Juͤng- ling die aͤuſſere Schoͤnheit der Tugend nicht auch tief gefuͤhlt hat! Er wird ſelten, oder nie als Mann fuͤr ſie handeln! Ein Pater, der an ihnen vorbeygieng, gruͤßte ſie mit Namen, und nannte unſern Siegwart, Bruder Xaver. Ja, mein lieber Siegwart, ſag- te Anton, nun iſts bald Zeit, wegen des Kloſters einen voͤlligen Entſchluß zu faſſen, denn dein Vater — laß mich dich immer du nennen, ich liebe dich, wie meinen Sohn — dein Vater, denk ich, wird heut oder mor- gen kommen, und dich abholen wollen; da muͤſ- ſen wir ihm doch was gewiſſes ſagen. Was meynſt du? Hat dirs hier gefallen? Glaubteſt du dein Leben als ein Kapuziner, das heißt als ein Mann, der groͤſtentheils von der menſchlichen Ge- ſellſchaft abgeſondert, dem Geluͤbd der Keuſchheit, des Gehorſams, und der Armuth unterthan, von der Welt ungekannt, oder nur zu oft verkannt und verachtet lebt, glaubſt du dein Leben als ein ſolcher hinbringen zu koͤnnen, und doch innerlich vergnuͤgt und gluͤcklich zu ſeyn? G

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/101>, abgerufen am 24.11.2024.