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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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ganzen Gesichte blutroth, und wagte kaum mehr,
die Augen aufzuschlagen.

Die Paters stunden bald hernach vom Essen
auf, und vertheilten sich. P. Anton fragte Sieg-
wart,
ob er ihn etwas in den Garten begleiten
wolle? Dieser nahms mit Freuden an. Er gieng
ein paarmal stillschweigend und nachdenklich mit
dem Pater auf und ab. Lieber Xaver? sagte
Anton endlich; er ist ja auf einmal so still ge-
worden? Ganz gewiß denkt er noch den Erzählun-
gen vom seligen Bruder Martin nach; sie ha-
ben einen tiefen Eindruck auf sein Herz gemacht,
wie's in der Jugend so zu gehen pflegt, und das
ist auch recht gut. Laß er's sich nur zur Nach-
eiferung dienen! Gewöhnlich empfindet der Jüngling
das Schöne der Natur und jeder guten edeln
Handlung tiefer, als der schon gesetzte, und kalt
scheinende Mann. Aber bey den meisten Jüng-
lingen bleibts auch beym Gefühl und geht selten
zum Entschluß über. Der gesetzte Mann hinge-
gen, der oft kalt scheint, weil sein Gefühl min-
der stark und gleichsam stumpf gemacht ist, han-
delt desto mehr für die Tugend. Er begnügt
sich nicht am Anschauen der äußerlichen schönen
Gestalt der Göttin, wie der Jüngling am An-



ganzen Geſichte blutroth, und wagte kaum mehr,
die Augen aufzuſchlagen.

Die Paters ſtunden bald hernach vom Eſſen
auf, und vertheilten ſich. P. Anton fragte Sieg-
wart,
ob er ihn etwas in den Garten begleiten
wolle? Dieſer nahms mit Freuden an. Er gieng
ein paarmal ſtillſchweigend und nachdenklich mit
dem Pater auf und ab. Lieber Xaver? ſagte
Anton endlich; er iſt ja auf einmal ſo ſtill ge-
worden? Ganz gewiß denkt er noch den Erzaͤhlun-
gen vom ſeligen Bruder Martin nach; ſie ha-
ben einen tiefen Eindruck auf ſein Herz gemacht,
wie’s in der Jugend ſo zu gehen pflegt, und das
iſt auch recht gut. Laß er’s ſich nur zur Nach-
eiferung dienen! Gewoͤhnlich empfindet der Juͤngling
das Schoͤne der Natur und jeder guten edeln
Handlung tiefer, als der ſchon geſetzte, und kalt
ſcheinende Mann. Aber bey den meiſten Juͤng-
lingen bleibts auch beym Gefuͤhl und geht ſelten
zum Entſchluß uͤber. Der geſetzte Mann hinge-
gen, der oft kalt ſcheint, weil ſein Gefuͤhl min-
der ſtark und gleichſam ſtumpf gemacht iſt, han-
delt deſto mehr fuͤr die Tugend. Er begnuͤgt
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[96/0100] ganzen Geſichte blutroth, und wagte kaum mehr, die Augen aufzuſchlagen. Die Paters ſtunden bald hernach vom Eſſen auf, und vertheilten ſich. P. Anton fragte Sieg- wart, ob er ihn etwas in den Garten begleiten wolle? Dieſer nahms mit Freuden an. Er gieng ein paarmal ſtillſchweigend und nachdenklich mit dem Pater auf und ab. Lieber Xaver? ſagte Anton endlich; er iſt ja auf einmal ſo ſtill ge- worden? Ganz gewiß denkt er noch den Erzaͤhlun- gen vom ſeligen Bruder Martin nach; ſie ha- ben einen tiefen Eindruck auf ſein Herz gemacht, wie’s in der Jugend ſo zu gehen pflegt, und das iſt auch recht gut. Laß er’s ſich nur zur Nach- eiferung dienen! Gewoͤhnlich empfindet der Juͤngling das Schoͤne der Natur und jeder guten edeln Handlung tiefer, als der ſchon geſetzte, und kalt ſcheinende Mann. Aber bey den meiſten Juͤng- lingen bleibts auch beym Gefuͤhl und geht ſelten zum Entſchluß uͤber. Der geſetzte Mann hinge- gen, der oft kalt ſcheint, weil ſein Gefuͤhl min- der ſtark und gleichſam ſtumpf gemacht iſt, han- delt deſto mehr fuͤr die Tugend. Er begnuͤgt ſich nicht am Anſchauen der aͤußerlichen ſchoͤnen Geſtalt der Goͤttin, wie der Juͤngling am An-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/100>, abgerufen am 21.11.2024.