Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.erzürnt war; und er folgte ihrer Warnung. Da sie ein paar Jahr' als Kostgängerinn in einem Nonnenkloster lebte, vermißte er sie sehr und schrieb ihr, sobald er schreiben konnte, einen Brief zu. Nach ihrer Zurückkunft aus dem Kloster wollte sie ihn das Klavierspielen lehren; Anfangs hatte er grosse Lust, und war eifrig drauf; aber bald ließ er wieder nach, denn das Notenlernen war ihm viel zu langweilig. Er hingegen mußte ihr Phädri Fabeln und Terenz Komödien übersetzen, weil sie in den Zwischenstunden und an den langen Winter- abenden gar zu gern ein gutes Buch las, und doch keines, oder wenige, hatte. Nachher kriegte sie von einem Preußischen Officier, der, im Burgauischen als Kriegsgefangner lag, mehrere gute, deutsche Bücher zu lesen. Je mehr sich die Seele ihres Vruders entwickelte, desto mehr gewann sie ihn lieb, und ward ganz seine Vertraute. Vielleicht kams auch daher, weil ihre Gesichtszüge sehr viel Aehnlichkeit miteinander, und mit den Gesichtszü- gen ihrer Mutter hatten. Aber desto weniger Aehnlichkeit in der Gesin- erzuͤrnt war; und er folgte ihrer Warnung. Da ſie ein paar Jahr’ als Koſtgaͤngerinn in einem Nonnenkloſter lebte, vermißte er ſie ſehr und ſchrieb ihr, ſobald er ſchreiben konnte, einen Brief zu. Nach ihrer Zuruͤckkunft aus dem Kloſter wollte ſie ihn das Klavierſpielen lehren; Anfangs hatte er groſſe Luſt, und war eifrig drauf; aber bald ließ er wieder nach, denn das Notenlernen war ihm viel zu langweilig. Er hingegen mußte ihr Phaͤdri Fabeln und Terenz Komoͤdien uͤberſetzen, weil ſie in den Zwiſchenſtunden und an den langen Winter- abenden gar zu gern ein gutes Buch las, und doch keines, oder wenige, hatte. Nachher kriegte ſie von einem Preußiſchen Officier, der, im Burgauiſchen als Kriegsgefangner lag, mehrere gute, deutſche Buͤcher zu leſen. Je mehr ſich die Seele ihres Vruders entwickelte, deſto mehr gewann ſie ihn lieb, und ward ganz ſeine Vertraute. Vielleicht kams auch daher, weil ihre Geſichtszuͤge ſehr viel Aehnlichkeit miteinander, und mit den Geſichtszuͤ- gen ihrer Mutter hatten. Aber deſto weniger Aehnlichkeit in der Geſin- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0120" n="116"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> erzuͤrnt war; und er folgte ihrer Warnung. Da<lb/> ſie ein paar Jahr’ als Koſtgaͤngerinn in einem<lb/> Nonnenkloſter lebte, vermißte er ſie ſehr und ſchrieb<lb/> ihr, ſobald er ſchreiben konnte, einen Brief zu.<lb/> Nach ihrer Zuruͤckkunft aus dem Kloſter wollte ſie<lb/> ihn das Klavierſpielen lehren; Anfangs hatte er<lb/> groſſe Luſt, und war eifrig drauf; aber bald ließ<lb/> er wieder nach, denn das Notenlernen war ihm<lb/> viel zu langweilig. Er hingegen mußte ihr <hi rendition="#fr">Phaͤdri</hi><lb/> Fabeln und <hi rendition="#fr">Terenz</hi> Komoͤdien uͤberſetzen, weil ſie<lb/> in den Zwiſchenſtunden und an den langen Winter-<lb/> abenden gar zu gern ein gutes Buch las, und doch<lb/> keines, oder wenige, hatte. Nachher kriegte ſie von<lb/> einem Preußiſchen Officier, der, im <hi rendition="#fr">Burgauiſchen</hi><lb/> als Kriegsgefangner lag, mehrere gute, deutſche<lb/> Buͤcher zu leſen. Je mehr ſich die Seele ihres<lb/> Vruders entwickelte, deſto mehr gewann ſie ihn<lb/> lieb, und ward ganz ſeine Vertraute. Vielleicht<lb/> kams auch daher, weil ihre Geſichtszuͤge ſehr viel<lb/> Aehnlichkeit miteinander, und mit den Geſichtszuͤ-<lb/> gen ihrer Mutter hatten.</p><lb/> <p>Aber deſto weniger Aehnlichkeit in der Geſin-<lb/> nung, im ganzen Karakter, und auch in der Bil-<lb/> dung hatte ihre Schweſter <hi rendition="#fr">Salome</hi> mit ihr, die<lb/> drey Jahre juͤnger war, als ſie. Dieſes Maͤdchen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [116/0120]
erzuͤrnt war; und er folgte ihrer Warnung. Da
ſie ein paar Jahr’ als Koſtgaͤngerinn in einem
Nonnenkloſter lebte, vermißte er ſie ſehr und ſchrieb
ihr, ſobald er ſchreiben konnte, einen Brief zu.
Nach ihrer Zuruͤckkunft aus dem Kloſter wollte ſie
ihn das Klavierſpielen lehren; Anfangs hatte er
groſſe Luſt, und war eifrig drauf; aber bald ließ
er wieder nach, denn das Notenlernen war ihm
viel zu langweilig. Er hingegen mußte ihr Phaͤdri
Fabeln und Terenz Komoͤdien uͤberſetzen, weil ſie
in den Zwiſchenſtunden und an den langen Winter-
abenden gar zu gern ein gutes Buch las, und doch
keines, oder wenige, hatte. Nachher kriegte ſie von
einem Preußiſchen Officier, der, im Burgauiſchen
als Kriegsgefangner lag, mehrere gute, deutſche
Buͤcher zu leſen. Je mehr ſich die Seele ihres
Vruders entwickelte, deſto mehr gewann ſie ihn
lieb, und ward ganz ſeine Vertraute. Vielleicht
kams auch daher, weil ihre Geſichtszuͤge ſehr viel
Aehnlichkeit miteinander, und mit den Geſichtszuͤ-
gen ihrer Mutter hatten.
Aber deſto weniger Aehnlichkeit in der Geſin-
nung, im ganzen Karakter, und auch in der Bil-
dung hatte ihre Schweſter Salome mit ihr, die
drey Jahre juͤnger war, als ſie. Dieſes Maͤdchen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |