Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.fiel mirs auch wol; ich glaubte schon im Himmel zu seyn, und wollte nichts mehr von der Welt wis- sen. Da war lauter Eintracht und Liebe. Man hörte nichts, als: liebe Schwester! Engelsschwester! und dergleichen. Man küßte sich des Morgens, wenn man aufstand, gieng mit Küssen auseinan- der. Jch einfältiges Mädchen dachte, das ist im- mer so; der Friede muß wol aus der Welt ins Kloster gezogen seyn und bedaurte, daß ich nicht schon länger mich drein begeben hätte. Aber nach etlichen Wochen, da ich nicht mehr neu im Kloster war, giengs ganz anders. Erst entstunden bey Tische kleine Neckereyen; eine Nonne zog die andre auf, man verantwortete sich; ward böse; die Aebtissin winkte; das half eine Zeitlang; aber, wenn sie weg war, giengs gleich wieder an, und oft entstand ein solcher Zank, daß die Schwestern weinend aus- einander giengen. Du solltest's nicht glauben; aber es ist mehr Eifersucht und heimliche Feind- schaft da, als anderswo. Mir begegnete man zwar sehr freundlich, und den andern Kostgängerinnen auch, aber das hat seine Ursachen; so wie man dir auch freundlich begegnet hat. Man muß eine bit- tre Arzeney überzuckern, wenn sie hinunter soll; wo würden neue Schwestern und Brüder herkommen, fiel mirs auch wol; ich glaubte ſchon im Himmel zu ſeyn, und wollte nichts mehr von der Welt wiſ- ſen. Da war lauter Eintracht und Liebe. Man hoͤrte nichts, als: liebe Schweſter! Engelsſchweſter! und dergleichen. Man kuͤßte ſich des Morgens, wenn man aufſtand, gieng mit Kuͤſſen auseinan- der. Jch einfaͤltiges Maͤdchen dachte, das iſt im- mer ſo; der Friede muß wol aus der Welt ins Kloſter gezogen ſeyn und bedaurte, daß ich nicht ſchon laͤnger mich drein begeben haͤtte. Aber nach etlichen Wochen, da ich nicht mehr neu im Kloſter war, giengs ganz anders. Erſt entſtunden bey Tiſche kleine Neckereyen; eine Nonne zog die andre auf, man verantwortete ſich; ward boͤſe; die Aebtiſſin winkte; das half eine Zeitlang; aber, wenn ſie weg war, giengs gleich wieder an, und oft entſtand ein ſolcher Zank, daß die Schweſtern weinend aus- einander giengen. Du ſollteſt’s nicht glauben; aber es iſt mehr Eiferſucht und heimliche Feind- ſchaft da, als anderswo. Mir begegnete man zwar ſehr freundlich, und den andern Koſtgaͤngerinnen auch, aber das hat ſeine Urſachen; ſo wie man dir auch freundlich begegnet hat. Man muß eine bit- tre Arzeney uͤberzuckern, wenn ſie hinunter ſoll; wo wuͤrden neue Schweſtern und Bruͤder herkommen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0134" n="130"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> fiel mirs auch wol; ich glaubte ſchon im Himmel<lb/> zu ſeyn, und wollte nichts mehr von der Welt wiſ-<lb/> ſen. Da war lauter Eintracht und Liebe. Man<lb/> hoͤrte nichts, als: liebe Schweſter! Engelsſchweſter!<lb/> und dergleichen. Man kuͤßte ſich des Morgens,<lb/> wenn man aufſtand, gieng mit Kuͤſſen auseinan-<lb/> der. Jch einfaͤltiges Maͤdchen dachte, das iſt im-<lb/> mer ſo; der Friede muß wol aus der Welt ins<lb/> Kloſter gezogen ſeyn und bedaurte, daß ich nicht<lb/> ſchon laͤnger mich drein begeben haͤtte. Aber nach<lb/> etlichen Wochen, da ich nicht mehr neu im Kloſter<lb/> war, giengs ganz anders. Erſt entſtunden bey Tiſche<lb/> kleine Neckereyen; eine Nonne zog die andre auf,<lb/> man verantwortete ſich; ward boͤſe; die Aebtiſſin<lb/> winkte; das half eine Zeitlang; aber, wenn ſie<lb/> weg war, giengs gleich wieder an, und oft entſtand<lb/> ein ſolcher Zank, daß die Schweſtern weinend aus-<lb/> einander giengen. Du ſollteſt’s nicht glauben;<lb/> aber es iſt mehr Eiferſucht und heimliche Feind-<lb/> ſchaft da, als anderswo. Mir begegnete man zwar<lb/> ſehr freundlich, und den andern Koſtgaͤngerinnen<lb/> auch, aber das hat ſeine Urſachen; ſo wie man dir<lb/> auch freundlich begegnet hat. Man muß eine bit-<lb/> tre Arzeney uͤberzuckern, wenn ſie hinunter ſoll; wo<lb/> wuͤrden neue Schweſtern und Bruͤder herkommen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [130/0134]
fiel mirs auch wol; ich glaubte ſchon im Himmel
zu ſeyn, und wollte nichts mehr von der Welt wiſ-
ſen. Da war lauter Eintracht und Liebe. Man
hoͤrte nichts, als: liebe Schweſter! Engelsſchweſter!
und dergleichen. Man kuͤßte ſich des Morgens,
wenn man aufſtand, gieng mit Kuͤſſen auseinan-
der. Jch einfaͤltiges Maͤdchen dachte, das iſt im-
mer ſo; der Friede muß wol aus der Welt ins
Kloſter gezogen ſeyn und bedaurte, daß ich nicht
ſchon laͤnger mich drein begeben haͤtte. Aber nach
etlichen Wochen, da ich nicht mehr neu im Kloſter
war, giengs ganz anders. Erſt entſtunden bey Tiſche
kleine Neckereyen; eine Nonne zog die andre auf,
man verantwortete ſich; ward boͤſe; die Aebtiſſin
winkte; das half eine Zeitlang; aber, wenn ſie
weg war, giengs gleich wieder an, und oft entſtand
ein ſolcher Zank, daß die Schweſtern weinend aus-
einander giengen. Du ſollteſt’s nicht glauben;
aber es iſt mehr Eiferſucht und heimliche Feind-
ſchaft da, als anderswo. Mir begegnete man zwar
ſehr freundlich, und den andern Koſtgaͤngerinnen
auch, aber das hat ſeine Urſachen; ſo wie man dir
auch freundlich begegnet hat. Man muß eine bit-
tre Arzeney uͤberzuckern, wenn ſie hinunter ſoll; wo
wuͤrden neue Schweſtern und Bruͤder herkommen,
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