Xaver. Gut, Schwester! Aber das must du doch auch sagen, daß zwischen Manns- und Nonnenklöstern ein gar himmelweiter Unterschied ist. Jhr seyd ewig eingesperrt, und wir können zu gesetzter Zeit ganze Tage lang herumgehen; können unter Menschen leben, wie vorher.
Therese. Ja, das ist schon etwas; aber viel hast du nicht damit gewonnen. Wenn Ein Unglück kleiner ist, als das andere, so bleibts des- wegen immer noch ein Unglück, dem man aus- weichen muß, wenn man kann. Die Hauptsa- che bleibt doch immer dieselbe; du must auch das Gelübde des Gehorsams, der Keuschheit und der Armut beschwören; must Dinge beschwören, gegen die sich deine ganze Natur empört.| Für was gab denn Gott uns Freyheit, wenn wir sie nicht brauchen sollen? Warum schuf er zweyerley Ge- schlechter, wenn sie sich durch Mauren von ein- ander absondern wollen? Und Geld und Gut sind doch auch Gaben Gottes; soll man sie verachten und wegschmeissen, und von andrer Menschen Ar- beit leben? Jch glaube nicht, Xaver, daß das recht ist; und sich selber unglücklich machen, soll man auch nicht.
Xaver. Gut, Schweſter! Aber das muſt du doch auch ſagen, daß zwiſchen Manns- und Nonnenkloͤſtern ein gar himmelweiter Unterſchied iſt. Jhr ſeyd ewig eingeſperrt, und wir koͤnnen zu geſetzter Zeit ganze Tage lang herumgehen; koͤnnen unter Menſchen leben, wie vorher.
Thereſe. Ja, das iſt ſchon etwas; aber viel haſt du nicht damit gewonnen. Wenn Ein Ungluͤck kleiner iſt, als das andere, ſo bleibts des- wegen immer noch ein Ungluͤck, dem man aus- weichen muß, wenn man kann. Die Hauptſa- che bleibt doch immer dieſelbe; du muſt auch das Geluͤbde des Gehorſams, der Keuſchheit und der Armut beſchwoͤren; muſt Dinge beſchwoͤren, gegen die ſich deine ganze Natur empoͤrt.| Fuͤr was gab denn Gott uns Freyheit, wenn wir ſie nicht brauchen ſollen? Warum ſchuf er zweyerley Ge- ſchlechter, wenn ſie ſich durch Mauren von ein- ander abſondern wollen? Und Geld und Gut ſind doch auch Gaben Gottes; ſoll man ſie verachten und wegſchmeiſſen, und von andrer Menſchen Ar- beit leben? Jch glaube nicht, Xaver, daß das recht iſt; und ſich ſelber ungluͤcklich machen, ſoll man auch nicht.
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Xaver. Gut, Schweſter! Aber das muſt
du doch auch ſagen, daß zwiſchen Manns- und
Nonnenkloͤſtern ein gar himmelweiter Unterſchied
iſt. Jhr ſeyd ewig eingeſperrt, und wir koͤnnen
zu geſetzter Zeit ganze Tage lang herumgehen;
koͤnnen unter Menſchen leben, wie vorher.
Thereſe. Ja, das iſt ſchon etwas; aber
viel haſt du nicht damit gewonnen. Wenn Ein
Ungluͤck kleiner iſt, als das andere, ſo bleibts des-
wegen immer noch ein Ungluͤck, dem man aus-
weichen muß, wenn man kann. Die Hauptſa-
che bleibt doch immer dieſelbe; du muſt auch das
Geluͤbde des Gehorſams, der Keuſchheit und der
Armut beſchwoͤren; muſt Dinge beſchwoͤren, gegen
die ſich deine ganze Natur empoͤrt.| Fuͤr was
gab denn Gott uns Freyheit, wenn wir ſie nicht
brauchen ſollen? Warum ſchuf er zweyerley Ge-
ſchlechter, wenn ſie ſich durch Mauren von ein-
ander abſondern wollen? Und Geld und Gut ſind
doch auch Gaben Gottes; ſoll man ſie verachten
und wegſchmeiſſen, und von andrer Menſchen Ar-
beit leben? Jch glaube nicht, Xaver, daß das
recht iſt; und ſich ſelber ungluͤcklich machen, ſoll
man auch nicht.
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/142>, abgerufen am 21.11.2024.
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