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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Dieser fragte endlich, was ihm fehle? Ach, antwortete
er, da hab ich eine Familie gefunden, die mit
der kümmerlichsten Armuth ringt. Es sind sechs
unerwachsne Kinder, und ein halbkranke Wittwe.
Denen hätt' ich nun so gern geholfen, und ley-
der! hab ich jetzt nichts; denn mein Geld von
Hause kommt erst über vierzehn Tage. Sieg-
wart, dessen Seele leicht gerührt, und mitleidig
war, gab ihm ein paar Gulden, und bat ihn, sie
der leidenden Familie zu bringen. Kreutzner
dankte ihm mit heuchlerischen Thränen, lobte sein
menschliches Herz, und verschleuderts das Geld an
Leckereyen. So ward der edelmüthige Jüngling
durch die Mine der Ehrlichkeit und Rechtschaf-
fenheit hintergangen; eine Schlinge, welche gu-
ten Seelen so oft von Bösewichtern gelegt wird.
Seine Seele bekam dadurch immer mehr Zunei-
gung zu Kreutznern, und machte ihn zu ihrem
Vertrauten. Er erzälte ihm alles von seiner Fa-
milie, ließ ihn seine Briefe lesen, und Kreutzner
schrieb an seine Schwester einen Brief voller
Schmeicheleyen. Sie antwortete ihm kalt, und
schrieb ihrem Bruder folgendes:



Dieſer fragte endlich, was ihm fehle? Ach, antwortete
er, da hab ich eine Familie gefunden, die mit
der kuͤmmerlichſten Armuth ringt. Es ſind ſechs
unerwachſne Kinder, und ein halbkranke Wittwe.
Denen haͤtt’ ich nun ſo gern geholfen, und ley-
der! hab ich jetzt nichts; denn mein Geld von
Hauſe kommt erſt uͤber vierzehn Tage. Sieg-
wart, deſſen Seele leicht geruͤhrt, und mitleidig
war, gab ihm ein paar Gulden, und bat ihn, ſie
der leidenden Familie zu bringen. Kreutzner
dankte ihm mit heuchleriſchen Thraͤnen, lobte ſein
menſchliches Herz, und verſchleuderts das Geld an
Leckereyen. So ward der edelmuͤthige Juͤngling
durch die Mine der Ehrlichkeit und Rechtſchaf-
fenheit hintergangen; eine Schlinge, welche gu-
ten Seelen ſo oft von Boͤſewichtern gelegt wird.
Seine Seele bekam dadurch immer mehr Zunei-
gung zu Kreutznern, und machte ihn zu ihrem
Vertrauten. Er erzaͤlte ihm alles von ſeiner Fa-
milie, ließ ihn ſeine Briefe leſen, und Kreutzner
ſchrieb an ſeine Schweſter einen Brief voller
Schmeicheleyen. Sie antwortete ihm kalt, und
ſchrieb ihrem Bruder folgendes:

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[188/0192] Dieſer fragte endlich, was ihm fehle? Ach, antwortete er, da hab ich eine Familie gefunden, die mit der kuͤmmerlichſten Armuth ringt. Es ſind ſechs unerwachſne Kinder, und ein halbkranke Wittwe. Denen haͤtt’ ich nun ſo gern geholfen, und ley- der! hab ich jetzt nichts; denn mein Geld von Hauſe kommt erſt uͤber vierzehn Tage. Sieg- wart, deſſen Seele leicht geruͤhrt, und mitleidig war, gab ihm ein paar Gulden, und bat ihn, ſie der leidenden Familie zu bringen. Kreutzner dankte ihm mit heuchleriſchen Thraͤnen, lobte ſein menſchliches Herz, und verſchleuderts das Geld an Leckereyen. So ward der edelmuͤthige Juͤngling durch die Mine der Ehrlichkeit und Rechtſchaf- fenheit hintergangen; eine Schlinge, welche gu- ten Seelen ſo oft von Boͤſewichtern gelegt wird. Seine Seele bekam dadurch immer mehr Zunei- gung zu Kreutznern, und machte ihn zu ihrem Vertrauten. Er erzaͤlte ihm alles von ſeiner Fa- milie, ließ ihn ſeine Briefe leſen, und Kreutzner ſchrieb an ſeine Schweſter einen Brief voller Schmeicheleyen. Sie antwortete ihm kalt, und ſchrieb ihrem Bruder folgendes:

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/192>, abgerufen am 21.11.2024.