Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



sprachen von den Tagen ihrer Kindheit, von ih-
ren Freuden oder Leiden, von den Freunden, wel-
che sie verlassen hatten, ob sie wol noch lebten, oder
sie im Himmel schon erwarteten?

Sie theilten sich ihre Besorgnisse wegen an-
drer mit, von denen sie wusten, daß sie ehedem
der Welt und ihren Leidenschaften zu sehr nachge-
hangen, und nicht rechtschaffen gedacht und gehan-
delt hätten; und nun beteten sie gemeinschaftlich
mit Worten, oder auch mit Blicken für ihr Wohl
und ihre Besserung.

Jn andern Gängen schlichen weniger edelge-
sinnte Männer, die der Neid gegen andre, oder
das Misvergnügen über ihre Vorgesetzten vereinigt
hatte, und die sich mit den Fehlern oder Schwach-
heiten ihrer Mitbrüder beschäftigten, und boshafte
Kränkungen für sie aussannen -- Weg von diesen
Unedeln, deren es leider in dem Kloster, das ein
Sitz der Unschuld seyn sollte, nur zu viele gibt!

Aber last uns die bedauren, die einsam, ohne
Gefährten in den dunkelsten und engsten Gän-
gen wandelten, um ihre Seufzer dem Ohr ihrer
Brüder zu entziehen; die zu lebhaften Seelen, die,
aus Ueberdruß der Welt, in der nur Unglück sie
verfolgte, sich in einer Stunde des Unwillens und

B



ſprachen von den Tagen ihrer Kindheit, von ih-
ren Freuden oder Leiden, von den Freunden, wel-
che ſie verlaſſen hatten, ob ſie wol noch lebten, oder
ſie im Himmel ſchon erwarteten?

Sie theilten ſich ihre Beſorgniſſe wegen an-
drer mit, von denen ſie wuſten, daß ſie ehedem
der Welt und ihren Leidenſchaften zu ſehr nachge-
hangen, und nicht rechtſchaffen gedacht und gehan-
delt haͤtten; und nun beteten ſie gemeinſchaftlich
mit Worten, oder auch mit Blicken fuͤr ihr Wohl
und ihre Beſſerung.

Jn andern Gaͤngen ſchlichen weniger edelge-
ſinnte Maͤnner, die der Neid gegen andre, oder
das Misvergnuͤgen uͤber ihre Vorgeſetzten vereinigt
hatte, und die ſich mit den Fehlern oder Schwach-
heiten ihrer Mitbruͤder beſchaͤftigten, und boshafte
Kraͤnkungen fuͤr ſie ausſannen — Weg von dieſen
Unedeln, deren es leider in dem Kloſter, das ein
Sitz der Unſchuld ſeyn ſollte, nur zu viele gibt!

Aber laſt uns die bedauren, die einſam, ohne
Gefaͤhrten in den dunkelſten und engſten Gaͤn-
gen wandelten, um ihre Seufzer dem Ohr ihrer
Bruͤder zu entziehen; die zu lebhaften Seelen, die,
aus Ueberdruß der Welt, in der nur Ungluͤck ſie
verfolgte, ſich in einer Stunde des Unwillens und

B
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0021" n="17"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;prachen von den Tagen ihrer Kindheit, von ih-<lb/>
ren Freuden oder Leiden, von den Freunden, wel-<lb/>
che &#x017F;ie verla&#x017F;&#x017F;en hatten, ob &#x017F;ie wol noch lebten, oder<lb/>
&#x017F;ie im Himmel &#x017F;chon erwarteten?</p><lb/>
        <p>Sie theilten &#x017F;ich ihre Be&#x017F;orgni&#x017F;&#x017F;e wegen an-<lb/>
drer mit, von denen &#x017F;ie wu&#x017F;ten, daß &#x017F;ie ehedem<lb/>
der Welt und ihren Leiden&#x017F;chaften zu &#x017F;ehr nachge-<lb/>
hangen, und nicht recht&#x017F;chaffen gedacht und gehan-<lb/>
delt ha&#x0364;tten; und nun beteten &#x017F;ie gemein&#x017F;chaftlich<lb/>
mit Worten, oder auch mit Blicken fu&#x0364;r ihr Wohl<lb/>
und ihre Be&#x017F;&#x017F;erung.</p><lb/>
        <p>Jn andern Ga&#x0364;ngen &#x017F;chlichen weniger edelge-<lb/>
&#x017F;innte Ma&#x0364;nner, die der Neid gegen andre, oder<lb/>
das Misvergnu&#x0364;gen u&#x0364;ber ihre Vorge&#x017F;etzten vereinigt<lb/>
hatte, und die &#x017F;ich mit den Fehlern oder Schwach-<lb/>
heiten ihrer Mitbru&#x0364;der be&#x017F;cha&#x0364;ftigten, und boshafte<lb/>
Kra&#x0364;nkungen fu&#x0364;r &#x017F;ie aus&#x017F;annen &#x2014; Weg von die&#x017F;en<lb/>
Unedeln, deren es leider in dem Klo&#x017F;ter, das ein<lb/>
Sitz der Un&#x017F;chuld &#x017F;eyn &#x017F;ollte, nur zu viele gibt!</p><lb/>
        <p>Aber la&#x017F;t uns die bedauren, die ein&#x017F;am, ohne<lb/>
Gefa&#x0364;hrten in den dunkel&#x017F;ten und eng&#x017F;ten Ga&#x0364;n-<lb/>
gen wandelten, um ihre Seufzer dem Ohr ihrer<lb/>
Bru&#x0364;der zu entziehen; die zu lebhaften Seelen, die,<lb/>
aus Ueberdruß der Welt, in der nur Unglu&#x0364;ck &#x017F;ie<lb/>
verfolgte, &#x017F;ich in einer Stunde des Unwillens und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0021] ſprachen von den Tagen ihrer Kindheit, von ih- ren Freuden oder Leiden, von den Freunden, wel- che ſie verlaſſen hatten, ob ſie wol noch lebten, oder ſie im Himmel ſchon erwarteten? Sie theilten ſich ihre Beſorgniſſe wegen an- drer mit, von denen ſie wuſten, daß ſie ehedem der Welt und ihren Leidenſchaften zu ſehr nachge- hangen, und nicht rechtſchaffen gedacht und gehan- delt haͤtten; und nun beteten ſie gemeinſchaftlich mit Worten, oder auch mit Blicken fuͤr ihr Wohl und ihre Beſſerung. Jn andern Gaͤngen ſchlichen weniger edelge- ſinnte Maͤnner, die der Neid gegen andre, oder das Misvergnuͤgen uͤber ihre Vorgeſetzten vereinigt hatte, und die ſich mit den Fehlern oder Schwach- heiten ihrer Mitbruͤder beſchaͤftigten, und boshafte Kraͤnkungen fuͤr ſie ausſannen — Weg von dieſen Unedeln, deren es leider in dem Kloſter, das ein Sitz der Unſchuld ſeyn ſollte, nur zu viele gibt! Aber laſt uns die bedauren, die einſam, ohne Gefaͤhrten in den dunkelſten und engſten Gaͤn- gen wandelten, um ihre Seufzer dem Ohr ihrer Bruͤder zu entziehen; die zu lebhaften Seelen, die, aus Ueberdruß der Welt, in der nur Ungluͤck ſie verfolgte, ſich in einer Stunde des Unwillens und B

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/21
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/21>, abgerufen am 21.11.2024.