Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.ersetzen. Du wustest wol noch nichts von seinem Tode, lieber Siegwart? Du besuchst uns auch gar zu selten. Er sagte mir noch den Tag vor sei- nem Tode, daß ich dich vielmals grüssen sollte; in der Ewigkeit seh er dich einst wieder. Nun ists bald ein Vierteliahr; am Charfreytagabend starb er. Ach, du hättest ihn sehen sollen, wie er starb; mit welcher Ruhe, mit welcher Heiterkeit! Aber so ein Leben war auch eines solchen Todes werth. Jch habe viele Leute gekannt, seit ich hier im Kloster bin, aber einen Mann, der so rein und unschuldig lebte, und so viel Gutes stiftete, wie er, hab ich nie gesehen! Jedermann hielt ihn für sei- nen Vater, und ward in seiner Gegenwart fröm- mer. Du hast ihn selbst gekannt, Siegwart; und ich würd' auch gar zu wehmüthig, wenn ich viel von ihm erzählen wollte. Hier an meiner Seite saß er so oft, goß seine ganze Seele vor mir aus, und sprach mit einer Freudigkeit vom Himmel, als ob er schon einmal da gewesen wäre. Oft, wenn ich so allein in der Dämmerung hier sitze, dann kommt mirs vor, als ob ich ihn hörte, und dann fahr ich auf, und wag' es kaum, wieder wegzugehen. Gros- ser Gott, und er muste mir entrissen werden! Doch ich werd ihm bald nachfolgen. erſetzen. Du wuſteſt wol noch nichts von ſeinem Tode, lieber Siegwart? Du beſuchſt uns auch gar zu ſelten. Er ſagte mir noch den Tag vor ſei- nem Tode, daß ich dich vielmals gruͤſſen ſollte; in der Ewigkeit ſeh er dich einſt wieder. Nun iſts bald ein Vierteliahr; am Charfreytagabend ſtarb er. Ach, du haͤtteſt ihn ſehen ſollen, wie er ſtarb; mit welcher Ruhe, mit welcher Heiterkeit! Aber ſo ein Leben war auch eines ſolchen Todes werth. Jch habe viele Leute gekannt, ſeit ich hier im Kloſter bin, aber einen Mann, der ſo rein und unſchuldig lebte, und ſo viel Gutes ſtiftete, wie er, hab ich nie geſehen! Jedermann hielt ihn fuͤr ſei- nen Vater, und ward in ſeiner Gegenwart froͤm- mer. Du haſt ihn ſelbſt gekannt, Siegwart; und ich wuͤrd’ auch gar zu wehmuͤthig, wenn ich viel von ihm erzaͤhlen wollte. Hier an meiner Seite ſaß er ſo oft, goß ſeine ganze Seele vor mir aus, und ſprach mit einer Freudigkeit vom Himmel, als ob er ſchon einmal da geweſen waͤre. Oft, wenn ich ſo allein in der Daͤmmerung hier ſitze, dann kommt mirs vor, als ob ich ihn hoͤrte, und dann fahr ich auf, und wag’ es kaum, wieder wegzugehen. Groſ- ſer Gott, und er muſte mir entriſſen werden! Doch ich werd ihm bald nachfolgen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0028" n="24"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> erſetzen. Du wuſteſt wol noch nichts von ſeinem<lb/> Tode, lieber Siegwart? Du beſuchſt uns auch<lb/> gar zu ſelten. Er ſagte mir noch den Tag vor ſei-<lb/> nem Tode, daß ich dich vielmals gruͤſſen ſollte; in<lb/> der Ewigkeit ſeh er dich einſt wieder. Nun iſts<lb/> bald ein Vierteliahr; am Charfreytagabend<lb/> ſtarb er. Ach, du haͤtteſt ihn ſehen ſollen, wie er<lb/> ſtarb; mit welcher Ruhe, mit welcher Heiterkeit!<lb/> Aber ſo ein Leben war auch eines ſolchen Todes<lb/> werth. Jch habe viele Leute gekannt, ſeit ich hier<lb/> im Kloſter bin, aber einen Mann, der ſo rein und<lb/> unſchuldig lebte, und ſo viel Gutes ſtiftete, wie er,<lb/> hab ich nie geſehen! Jedermann hielt ihn fuͤr ſei-<lb/> nen Vater, und ward in ſeiner Gegenwart froͤm-<lb/> mer. Du haſt ihn ſelbſt gekannt, Siegwart; und<lb/> ich wuͤrd’ auch gar zu wehmuͤthig, wenn ich viel<lb/> von ihm erzaͤhlen wollte. Hier an meiner Seite<lb/> ſaß er ſo oft, goß ſeine ganze Seele vor mir aus,<lb/> und ſprach mit einer Freudigkeit vom Himmel, als<lb/> ob er ſchon einmal da geweſen waͤre. Oft, wenn<lb/> ich ſo allein in der Daͤmmerung hier ſitze, dann kommt<lb/> mirs vor, als ob ich ihn hoͤrte, und dann fahr ich<lb/> auf, und wag’ es kaum, wieder wegzugehen. Groſ-<lb/> ſer Gott, und er muſte mir entriſſen werden! Doch<lb/> ich werd ihm bald nachfolgen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [24/0028]
erſetzen. Du wuſteſt wol noch nichts von ſeinem
Tode, lieber Siegwart? Du beſuchſt uns auch
gar zu ſelten. Er ſagte mir noch den Tag vor ſei-
nem Tode, daß ich dich vielmals gruͤſſen ſollte; in
der Ewigkeit ſeh er dich einſt wieder. Nun iſts
bald ein Vierteliahr; am Charfreytagabend
ſtarb er. Ach, du haͤtteſt ihn ſehen ſollen, wie er
ſtarb; mit welcher Ruhe, mit welcher Heiterkeit!
Aber ſo ein Leben war auch eines ſolchen Todes
werth. Jch habe viele Leute gekannt, ſeit ich hier
im Kloſter bin, aber einen Mann, der ſo rein und
unſchuldig lebte, und ſo viel Gutes ſtiftete, wie er,
hab ich nie geſehen! Jedermann hielt ihn fuͤr ſei-
nen Vater, und ward in ſeiner Gegenwart froͤm-
mer. Du haſt ihn ſelbſt gekannt, Siegwart; und
ich wuͤrd’ auch gar zu wehmuͤthig, wenn ich viel
von ihm erzaͤhlen wollte. Hier an meiner Seite
ſaß er ſo oft, goß ſeine ganze Seele vor mir aus,
und ſprach mit einer Freudigkeit vom Himmel, als
ob er ſchon einmal da geweſen waͤre. Oft, wenn
ich ſo allein in der Daͤmmerung hier ſitze, dann kommt
mirs vor, als ob ich ihn hoͤrte, und dann fahr ich
auf, und wag’ es kaum, wieder wegzugehen. Groſ-
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