Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



denken, was sie selber zu mir sagte, daß das weib-
liche Geschlecht auf diese Art sehr schlimm daran
ist, wenn man ihm alles das übel nehmen will,
was uns hundertmal erlaubt ist.

Kronhelm. Recht, Siegwart, das sag ich
auch! Ein Geschlecht sollte soviel Freyheit haben,
als das andere! Man hätte diesen Ton nicht ein-
führen sollen! Wir sind Tyrannen des weiblichen Ge-
schlechts. Aber da es nun einmal ein angenomm-
ner Grundsatz ist, so müssen sich die Mädchen auch
darnach bequemen, weil ihnen die Ueberschreitung
desselben so nachtheilig ist. -- Und ganz scheint die
Regel doch nicht von unserm Eigensinn abzuhän-
gen. Es ist allgemein, daß ein Mädchen sich ver-
ächtlich macht, wenn sie sich selbst anbeut. Jeder
fühlts bey sich; sein Gefühl wird beleidigt, und
es scheint so in der Natur zu liegen. -- Jch hab
übrigens mit dem Fräulein Mitleid. Dem An-
fang der Liebe kann man schwer widerstehen.
Glaub mir, daß mein Herz viel litt, als ich den
trockenen und kalten Ton annehmen muste.

Siegwart. Jch sahs wol, als du den Gang
allein hinaufgiengest, daß in deiner Seele man-
cher Kampf vorgehen müsse. -- Jch bewundre
deine Klugheit, und begreife nicht, wo du die



denken, was ſie ſelber zu mir ſagte, daß das weib-
liche Geſchlecht auf dieſe Art ſehr ſchlimm daran
iſt, wenn man ihm alles das uͤbel nehmen will,
was uns hundertmal erlaubt iſt.

Kronhelm. Recht, Siegwart, das ſag ich
auch! Ein Geſchlecht ſollte ſoviel Freyheit haben,
als das andere! Man haͤtte dieſen Ton nicht ein-
fuͤhren ſollen! Wir ſind Tyrannen des weiblichen Ge-
ſchlechts. Aber da es nun einmal ein angenomm-
ner Grundſatz iſt, ſo muͤſſen ſich die Maͤdchen auch
darnach bequemen, weil ihnen die Ueberſchreitung
deſſelben ſo nachtheilig iſt. — Und ganz ſcheint die
Regel doch nicht von unſerm Eigenſinn abzuhaͤn-
gen. Es iſt allgemein, daß ein Maͤdchen ſich ver-
aͤchtlich macht, wenn ſie ſich ſelbſt anbeut. Jeder
fuͤhlts bey ſich; ſein Gefuͤhl wird beleidigt, und
es ſcheint ſo in der Natur zu liegen. — Jch hab
uͤbrigens mit dem Fraͤulein Mitleid. Dem An-
fang der Liebe kann man ſchwer widerſtehen.
Glaub mir, daß mein Herz viel litt, als ich den
trockenen und kalten Ton annehmen muſte.

Siegwart. Jch ſahs wol, als du den Gang
allein hinaufgiengeſt, daß in deiner Seele man-
cher Kampf vorgehen muͤſſe. — Jch bewundre
deine Klugheit, und begreife nicht, wo du die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0298" n="294"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
denken, was &#x017F;ie &#x017F;elber zu mir &#x017F;agte, daß das weib-<lb/>
liche Ge&#x017F;chlecht auf die&#x017F;e Art &#x017F;ehr &#x017F;chlimm daran<lb/>
i&#x017F;t, wenn man ihm alles das u&#x0364;bel nehmen will,<lb/>
was uns hundertmal erlaubt i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Kronhelm.</hi> Recht, <hi rendition="#fr">Siegwart,</hi> das &#x017F;ag ich<lb/>
auch! Ein Ge&#x017F;chlecht &#x017F;ollte &#x017F;oviel Freyheit haben,<lb/>
als das andere! Man ha&#x0364;tte die&#x017F;en Ton nicht ein-<lb/>
fu&#x0364;hren &#x017F;ollen! Wir &#x017F;ind Tyrannen des weiblichen Ge-<lb/>
&#x017F;chlechts. Aber da es nun einmal ein angenomm-<lb/>
ner Grund&#x017F;atz i&#x017F;t, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich die Ma&#x0364;dchen auch<lb/>
darnach bequemen, weil ihnen die Ueber&#x017F;chreitung<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;o nachtheilig i&#x017F;t. &#x2014; Und ganz &#x017F;cheint die<lb/>
Regel doch nicht von un&#x017F;erm Eigen&#x017F;inn abzuha&#x0364;n-<lb/>
gen. Es i&#x017F;t allgemein, daß ein Ma&#x0364;dchen &#x017F;ich ver-<lb/>
a&#x0364;chtlich macht, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t anbeut. Jeder<lb/>
fu&#x0364;hlts bey &#x017F;ich; &#x017F;ein Gefu&#x0364;hl wird beleidigt, und<lb/>
es &#x017F;cheint &#x017F;o in der Natur zu liegen. &#x2014; Jch hab<lb/>
u&#x0364;brigens mit dem Fra&#x0364;ulein Mitleid. Dem An-<lb/>
fang der Liebe kann man &#x017F;chwer wider&#x017F;tehen.<lb/>
Glaub mir, daß mein Herz viel litt, als ich den<lb/>
trockenen und kalten Ton annehmen mu&#x017F;te.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#fr">Siegwart.</hi> Jch &#x017F;ahs wol, als du den Gang<lb/>
allein hinaufgienge&#x017F;t, daß in deiner Seele man-<lb/>
cher Kampf vorgehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. &#x2014; Jch bewundre<lb/>
deine Klugheit, und begreife nicht, wo du die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[294/0298] denken, was ſie ſelber zu mir ſagte, daß das weib- liche Geſchlecht auf dieſe Art ſehr ſchlimm daran iſt, wenn man ihm alles das uͤbel nehmen will, was uns hundertmal erlaubt iſt. Kronhelm. Recht, Siegwart, das ſag ich auch! Ein Geſchlecht ſollte ſoviel Freyheit haben, als das andere! Man haͤtte dieſen Ton nicht ein- fuͤhren ſollen! Wir ſind Tyrannen des weiblichen Ge- ſchlechts. Aber da es nun einmal ein angenomm- ner Grundſatz iſt, ſo muͤſſen ſich die Maͤdchen auch darnach bequemen, weil ihnen die Ueberſchreitung deſſelben ſo nachtheilig iſt. — Und ganz ſcheint die Regel doch nicht von unſerm Eigenſinn abzuhaͤn- gen. Es iſt allgemein, daß ein Maͤdchen ſich ver- aͤchtlich macht, wenn ſie ſich ſelbſt anbeut. Jeder fuͤhlts bey ſich; ſein Gefuͤhl wird beleidigt, und es ſcheint ſo in der Natur zu liegen. — Jch hab uͤbrigens mit dem Fraͤulein Mitleid. Dem An- fang der Liebe kann man ſchwer widerſtehen. Glaub mir, daß mein Herz viel litt, als ich den trockenen und kalten Ton annehmen muſte. Siegwart. Jch ſahs wol, als du den Gang allein hinaufgiengeſt, daß in deiner Seele man- cher Kampf vorgehen muͤſſe. — Jch bewundre deine Klugheit, und begreife nicht, wo du die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/298
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/298>, abgerufen am 22.11.2024.