denken, was sie selber zu mir sagte, daß das weib- liche Geschlecht auf diese Art sehr schlimm daran ist, wenn man ihm alles das übel nehmen will, was uns hundertmal erlaubt ist.
Kronhelm. Recht, Siegwart, das sag ich auch! Ein Geschlecht sollte soviel Freyheit haben, als das andere! Man hätte diesen Ton nicht ein- führen sollen! Wir sind Tyrannen des weiblichen Ge- schlechts. Aber da es nun einmal ein angenomm- ner Grundsatz ist, so müssen sich die Mädchen auch darnach bequemen, weil ihnen die Ueberschreitung desselben so nachtheilig ist. -- Und ganz scheint die Regel doch nicht von unserm Eigensinn abzuhän- gen. Es ist allgemein, daß ein Mädchen sich ver- ächtlich macht, wenn sie sich selbst anbeut. Jeder fühlts bey sich; sein Gefühl wird beleidigt, und es scheint so in der Natur zu liegen. -- Jch hab übrigens mit dem Fräulein Mitleid. Dem An- fang der Liebe kann man schwer widerstehen. Glaub mir, daß mein Herz viel litt, als ich den trockenen und kalten Ton annehmen muste.
Siegwart. Jch sahs wol, als du den Gang allein hinaufgiengest, daß in deiner Seele man- cher Kampf vorgehen müsse. -- Jch bewundre deine Klugheit, und begreife nicht, wo du die
denken, was ſie ſelber zu mir ſagte, daß das weib- liche Geſchlecht auf dieſe Art ſehr ſchlimm daran iſt, wenn man ihm alles das uͤbel nehmen will, was uns hundertmal erlaubt iſt.
Kronhelm. Recht, Siegwart, das ſag ich auch! Ein Geſchlecht ſollte ſoviel Freyheit haben, als das andere! Man haͤtte dieſen Ton nicht ein- fuͤhren ſollen! Wir ſind Tyrannen des weiblichen Ge- ſchlechts. Aber da es nun einmal ein angenomm- ner Grundſatz iſt, ſo muͤſſen ſich die Maͤdchen auch darnach bequemen, weil ihnen die Ueberſchreitung deſſelben ſo nachtheilig iſt. — Und ganz ſcheint die Regel doch nicht von unſerm Eigenſinn abzuhaͤn- gen. Es iſt allgemein, daß ein Maͤdchen ſich ver- aͤchtlich macht, wenn ſie ſich ſelbſt anbeut. Jeder fuͤhlts bey ſich; ſein Gefuͤhl wird beleidigt, und es ſcheint ſo in der Natur zu liegen. — Jch hab uͤbrigens mit dem Fraͤulein Mitleid. Dem An- fang der Liebe kann man ſchwer widerſtehen. Glaub mir, daß mein Herz viel litt, als ich den trockenen und kalten Ton annehmen muſte.
Siegwart. Jch ſahs wol, als du den Gang allein hinaufgiengeſt, daß in deiner Seele man- cher Kampf vorgehen muͤſſe. — Jch bewundre deine Klugheit, und begreife nicht, wo du die
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denken, was ſie ſelber zu mir ſagte, daß das weib-
liche Geſchlecht auf dieſe Art ſehr ſchlimm daran
iſt, wenn man ihm alles das uͤbel nehmen will,
was uns hundertmal erlaubt iſt.
Kronhelm. Recht, Siegwart, das ſag ich
auch! Ein Geſchlecht ſollte ſoviel Freyheit haben,
als das andere! Man haͤtte dieſen Ton nicht ein-
fuͤhren ſollen! Wir ſind Tyrannen des weiblichen Ge-
ſchlechts. Aber da es nun einmal ein angenomm-
ner Grundſatz iſt, ſo muͤſſen ſich die Maͤdchen auch
darnach bequemen, weil ihnen die Ueberſchreitung
deſſelben ſo nachtheilig iſt. — Und ganz ſcheint die
Regel doch nicht von unſerm Eigenſinn abzuhaͤn-
gen. Es iſt allgemein, daß ein Maͤdchen ſich ver-
aͤchtlich macht, wenn ſie ſich ſelbſt anbeut. Jeder
fuͤhlts bey ſich; ſein Gefuͤhl wird beleidigt, und
es ſcheint ſo in der Natur zu liegen. — Jch hab
uͤbrigens mit dem Fraͤulein Mitleid. Dem An-
fang der Liebe kann man ſchwer widerſtehen.
Glaub mir, daß mein Herz viel litt, als ich den
trockenen und kalten Ton annehmen muſte.
Siegwart. Jch ſahs wol, als du den Gang
allein hinaufgiengeſt, daß in deiner Seele man-
cher Kampf vorgehen muͤſſe. — Jch bewundre
deine Klugheit, und begreife nicht, wo du die
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/298>, abgerufen am 22.11.2024.
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