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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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ste, und mit welchem Nutzen man ihn lesen kön-
ne. Siegwart saß Tag und Nacht dabey, und
übersprang durch seinen Fleiß gar bald die Lek-
tionen in der Schule. Er bewunderte an Cäsar
den grossen Feldherrn, der, mit der beständigsten
Gegenwart des Geistes, sich aller Umstände und
Abwechselungen des Krieges, stets zu seinem Vor-
theile zu bedienen wuste; aber er konnte in ihm
den Geist nicht lieben, der, von rasender Erobe-
rungssucht dahin gerissen, keinen höhern Zweck
kennt, als den: ein freygebornes Volk, das ihn
nie beleidigt hatte, das ihm nicht einmal im
Wege stund, seiner Freyheit, des höchsten Gutes,
das es kannte, zu berauben. Er verabscheute den
Mann, der Ströme Bluts seiner Landsleute und
der Gallier vergoß, um diesen ungeheuren Durst
zu stillen. Er entdeckte mit Verwunderung in
dem Gemählde der alten Gallier die Grundzüge,
die noch jetzt den Charakter der neuern Franzosen
ausmachen: den Wankelmut in ihren schnell, oft
übereilt, gefaßten Anschlägen; die Begierde, immer
etwas Neues auszuhecken und zu erfahren; (B.
IV. K. 5.) Die Grausamkeit, die sich noch jetzt
in ihren Todesstrafen äussert. (VI. 19.) Den
sklavischen Gehorsam des Volks gegen seine Obrig-



ſte, und mit welchem Nutzen man ihn leſen koͤn-
ne. Siegwart ſaß Tag und Nacht dabey, und
uͤberſprang durch ſeinen Fleiß gar bald die Lek-
tionen in der Schule. Er bewunderte an Caͤſar
den groſſen Feldherrn, der, mit der beſtaͤndigſten
Gegenwart des Geiſtes, ſich aller Umſtaͤnde und
Abwechſelungen des Krieges, ſtets zu ſeinem Vor-
theile zu bedienen wuſte; aber er konnte in ihm
den Geiſt nicht lieben, der, von raſender Erobe-
rungsſucht dahin geriſſen, keinen hoͤhern Zweck
kennt, als den: ein freygebornes Volk, das ihn
nie beleidigt hatte, das ihm nicht einmal im
Wege ſtund, ſeiner Freyheit, des hoͤchſten Gutes,
das es kannte, zu berauben. Er verabſcheute den
Mann, der Stroͤme Bluts ſeiner Landsleute und
der Gallier vergoß, um dieſen ungeheuren Durſt
zu ſtillen. Er entdeckte mit Verwunderung in
dem Gemaͤhlde der alten Gallier die Grundzuͤge,
die noch jetzt den Charakter der neuern Franzoſen
ausmachen: den Wankelmut in ihren ſchnell, oft
uͤbereilt, gefaßten Anſchlaͤgen; die Begierde, immer
etwas Neues auszuhecken und zu erfahren; (B.
IV. K. 5.) Die Grauſamkeit, die ſich noch jetzt
in ihren Todesſtrafen aͤuſſert. (VI. 19.) Den
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[310/0314] ſte, und mit welchem Nutzen man ihn leſen koͤn- ne. Siegwart ſaß Tag und Nacht dabey, und uͤberſprang durch ſeinen Fleiß gar bald die Lek- tionen in der Schule. Er bewunderte an Caͤſar den groſſen Feldherrn, der, mit der beſtaͤndigſten Gegenwart des Geiſtes, ſich aller Umſtaͤnde und Abwechſelungen des Krieges, ſtets zu ſeinem Vor- theile zu bedienen wuſte; aber er konnte in ihm den Geiſt nicht lieben, der, von raſender Erobe- rungsſucht dahin geriſſen, keinen hoͤhern Zweck kennt, als den: ein freygebornes Volk, das ihn nie beleidigt hatte, das ihm nicht einmal im Wege ſtund, ſeiner Freyheit, des hoͤchſten Gutes, das es kannte, zu berauben. Er verabſcheute den Mann, der Stroͤme Bluts ſeiner Landsleute und der Gallier vergoß, um dieſen ungeheuren Durſt zu ſtillen. Er entdeckte mit Verwunderung in dem Gemaͤhlde der alten Gallier die Grundzuͤge, die noch jetzt den Charakter der neuern Franzoſen ausmachen: den Wankelmut in ihren ſchnell, oft uͤbereilt, gefaßten Anſchlaͤgen; die Begierde, immer etwas Neues auszuhecken und zu erfahren; (B. IV. K. 5.) Die Grauſamkeit, die ſich noch jetzt in ihren Todesſtrafen aͤuſſert. (VI. 19.) Den ſklaviſchen Gehorſam des Volks gegen ſeine Obrig-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/314>, abgerufen am 22.11.2024.