Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.treflich. Man fühlt was dabey, was man sonst in seinem Leben nicht gefühlt hat; man ist ganz über der Welt, und sieht auf sie herunter. Nun fang ich das Buch bald selber an zu lesen. Es soll etwas Mühe kosten, eh mans erst ganz ver- steht, sagt Hauptmann Northern; aber wer wird sich, um etwas Herrlichen willen, eine kleine Müh verdriessen lassen? Leb wohl, liebster Bruder, und empfiehl mich dem P. Philipp! Gottlob, daß er wieder gesund ist! Dem Herrn von Kronhelm hätt ich fast selbst geschrieben; aber das wär auch gar zu dreist! Sags ihm ja nicht! Adjeu! Deine getreue Schwester Th. Siegwart. Siegwart ließ auch diesen Brief seinen treflich. Man fuͤhlt was dabey, was man ſonſt in ſeinem Leben nicht gefuͤhlt hat; man iſt ganz uͤber der Welt, und ſieht auf ſie herunter. Nun fang ich das Buch bald ſelber an zu leſen. Es ſoll etwas Muͤhe koſten, eh mans erſt ganz ver- ſteht, ſagt Hauptmann Northern; aber wer wird ſich, um etwas Herrlichen willen, eine kleine Muͤh verdrieſſen laſſen? Leb wohl, liebſter Bruder, und empfiehl mich dem P. Philipp! Gottlob, daß er wieder geſund iſt! Dem Herrn von Kronhelm haͤtt ich faſt ſelbſt geſchrieben; aber das waͤr auch gar zu dreiſt! Sags ihm ja nicht! Adjeu! Deine getreue Schweſter Th. Siegwart. Siegwart ließ auch dieſen Brief ſeinen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <floatingText> <body> <div type="letter"> <p><pb facs="#f0320" n="316"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> treflich. Man fuͤhlt was dabey, was man ſonſt<lb/> in ſeinem Leben nicht gefuͤhlt hat; man iſt ganz<lb/> uͤber der Welt, und ſieht auf ſie herunter. Nun<lb/> fang ich das Buch bald ſelber an zu leſen. Es<lb/> ſoll etwas Muͤhe koſten, eh mans erſt ganz ver-<lb/> ſteht, ſagt Hauptmann <hi rendition="#fr">Northern;</hi> aber wer wird<lb/> ſich, um etwas Herrlichen willen, eine kleine Muͤh<lb/> verdrieſſen laſſen? Leb wohl, liebſter Bruder, und<lb/> empfiehl mich dem P. <hi rendition="#fr">Philipp!</hi> Gottlob, daß er<lb/> wieder geſund iſt! Dem Herrn von <hi rendition="#fr">Kronhelm</hi><lb/> haͤtt ich faſt ſelbſt geſchrieben; aber das waͤr auch<lb/> gar zu dreiſt! Sags ihm ja nicht! Adjeu!</p><lb/> <closer> <salute>Deine getreue Schweſter<lb/><hi rendition="#et"><hi rendition="#fr">Th. Siegwart.</hi></hi></salute> </closer> </div> </body> </floatingText><lb/> <p><hi rendition="#fr">Siegwart</hi> ließ auch dieſen Brief ſeinen<lb/><hi rendition="#fr">Kronhelm</hi> leſen. Dieſer fand an <hi rendition="#fr">Thereſens</hi><lb/> Denkart immer mehr Wohlgefallen, und ſagte zu<lb/><hi rendition="#fr">Xaver,</hi> wenn er ſeiner Schweſter wieder ſchreibe,<lb/> ſo woll er auch ein Briefchen beylegen. Er freu-<lb/> te ſich, daß <hi rendition="#fr">Thereſe</hi> mit ihm uͤber <hi rendition="#fr">Reginens</hi><lb/> Charakter gleichgeſinnt ſey, ob ſie gleich gelinder<lb/> von ihr urtheilte, als er, in einem andern Ver-<lb/> haͤltniſſe, gethan hatte.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [316/0320]
treflich. Man fuͤhlt was dabey, was man ſonſt
in ſeinem Leben nicht gefuͤhlt hat; man iſt ganz
uͤber der Welt, und ſieht auf ſie herunter. Nun
fang ich das Buch bald ſelber an zu leſen. Es
ſoll etwas Muͤhe koſten, eh mans erſt ganz ver-
ſteht, ſagt Hauptmann Northern; aber wer wird
ſich, um etwas Herrlichen willen, eine kleine Muͤh
verdrieſſen laſſen? Leb wohl, liebſter Bruder, und
empfiehl mich dem P. Philipp! Gottlob, daß er
wieder geſund iſt! Dem Herrn von Kronhelm
haͤtt ich faſt ſelbſt geſchrieben; aber das waͤr auch
gar zu dreiſt! Sags ihm ja nicht! Adjeu!
Deine getreue Schweſter
Th. Siegwart.
Siegwart ließ auch dieſen Brief ſeinen
Kronhelm leſen. Dieſer fand an Thereſens
Denkart immer mehr Wohlgefallen, und ſagte zu
Xaver, wenn er ſeiner Schweſter wieder ſchreibe,
ſo woll er auch ein Briefchen beylegen. Er freu-
te ſich, daß Thereſe mit ihm uͤber Reginens
Charakter gleichgeſinnt ſey, ob ſie gleich gelinder
von ihr urtheilte, als er, in einem andern Ver-
haͤltniſſe, gethan hatte.
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