Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.Siegwart, jedes Gedicht in der Lage lesen, wor- inn's der Dichter sang, und ihn nicht mit kal- tem Blut beurtheilen! -- Alles traurige entfernte sich nun wieder aus Theresens und Kronhelms Brust; nur der nahe Trennungstag schwebte, wie ein aufsteigendes Gewitter, vor ihnen. Sie giengen in den Garten, wo Therese Geschäfte hatte. Sie brachen Birn an den Franzbäumen miteinander ab, und legten sie ins Körbchen, das Therese am Arm trug. Dann kamen sie an ei- nen Aprikosenbaum. Therese fand zwo aneinan- der festgewachsne Aprikosen; gab die eine Hälfte ihrem Kronhelm und die andre aß sie. Die beyden Kerne, sagte Kronhelm, wollen wir hier in die Erde stecken, daß sie beyeinander aufwach- sen; wenn die Bäume groß werden, wollen wir uns unter ihren Schatten setzen, und an diesen Tag denken! Therese lächelte, und steckte ihren Kern neben Kronhelms seinem, in die Erde. -- Ach, die armen Balsaminen müssen wir begies- sen! sagte sie; sie stehn so traurig da, und sen- ken ihre Blätter! Kronhelm sprang zum Brun- nen, und holte Wasser, und begoß sie. Sehen Sie! sagte er, wie sie sich schon allmählich wie- der aufrichten! Denken Sie nicht, daß es uns Siegwart, jedes Gedicht in der Lage leſen, wor- inn’s der Dichter ſang, und ihn nicht mit kal- tem Blut beurtheilen! — Alles traurige entfernte ſich nun wieder aus Thereſens und Kronhelms Bruſt; nur der nahe Trennungstag ſchwebte, wie ein aufſteigendes Gewitter, vor ihnen. Sie giengen in den Garten, wo Thereſe Geſchaͤfte hatte. Sie brachen Birn an den Franzbaͤumen miteinander ab, und legten ſie ins Koͤrbchen, das Thereſe am Arm trug. Dann kamen ſie an ei- nen Aprikoſenbaum. Thereſe fand zwo aneinan- der feſtgewachſne Aprikoſen; gab die eine Haͤlfte ihrem Kronhelm und die andre aß ſie. Die beyden Kerne, ſagte Kronhelm, wollen wir hier in die Erde ſtecken, daß ſie beyeinander aufwach- ſen; wenn die Baͤume groß werden, wollen wir uns unter ihren Schatten ſetzen, und an dieſen Tag denken! Thereſe laͤchelte, und ſteckte ihren Kern neben Kronhelms ſeinem, in die Erde. — Ach, die armen Balſaminen muͤſſen wir begieſ- ſen! ſagte ſie; ſie ſtehn ſo traurig da, und ſen- ken ihre Blaͤtter! Kronhelm ſprang zum Brun- nen, und holte Waſſer, und begoß ſie. Sehen Sie! ſagte er, wie ſie ſich ſchon allmaͤhlich wie- der aufrichten! Denken Sie nicht, daß es uns <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0412" n="408"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><hi rendition="#fr">Siegwart,</hi> jedes Gedicht in der Lage leſen, wor-<lb/> inn’s der Dichter ſang, und ihn nicht mit kal-<lb/> tem Blut beurtheilen! — Alles traurige entfernte<lb/> ſich nun wieder aus <hi rendition="#fr">Thereſens</hi> und <hi rendition="#fr">Kronhelms</hi><lb/> Bruſt; nur der nahe Trennungstag ſchwebte,<lb/> wie ein aufſteigendes Gewitter, vor ihnen. Sie<lb/> giengen in den Garten, wo <hi rendition="#fr">Thereſe</hi> Geſchaͤfte<lb/> hatte. Sie brachen Birn an den Franzbaͤumen<lb/> miteinander ab, und legten ſie ins Koͤrbchen, das<lb/><hi rendition="#fr">Thereſe</hi> am Arm trug. Dann kamen ſie an ei-<lb/> nen Aprikoſenbaum. <hi rendition="#fr">Thereſe</hi> fand zwo aneinan-<lb/> der feſtgewachſne Aprikoſen; gab die eine Haͤlfte<lb/> ihrem <hi rendition="#fr">Kronhelm</hi> und die andre aß ſie. Die<lb/> beyden Kerne, ſagte <hi rendition="#fr">Kronhelm,</hi> wollen wir hier<lb/> in die Erde ſtecken, daß ſie beyeinander aufwach-<lb/> ſen; wenn die Baͤume groß werden, wollen wir<lb/> uns unter ihren Schatten ſetzen, und an dieſen<lb/> Tag denken! <hi rendition="#fr">Thereſe</hi> laͤchelte, und ſteckte ihren<lb/> Kern neben <hi rendition="#fr">Kronhelms</hi> ſeinem, in die Erde. —<lb/> Ach, die armen Balſaminen muͤſſen wir begieſ-<lb/> ſen! ſagte ſie; ſie ſtehn ſo traurig da, und ſen-<lb/> ken ihre Blaͤtter! <hi rendition="#fr">Kronhelm</hi> ſprang zum Brun-<lb/> nen, und holte Waſſer, und begoß ſie. Sehen<lb/> Sie! ſagte er, wie ſie ſich ſchon allmaͤhlich wie-<lb/> der aufrichten! Denken Sie nicht, daß es uns<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [408/0412]
Siegwart, jedes Gedicht in der Lage leſen, wor-
inn’s der Dichter ſang, und ihn nicht mit kal-
tem Blut beurtheilen! — Alles traurige entfernte
ſich nun wieder aus Thereſens und Kronhelms
Bruſt; nur der nahe Trennungstag ſchwebte,
wie ein aufſteigendes Gewitter, vor ihnen. Sie
giengen in den Garten, wo Thereſe Geſchaͤfte
hatte. Sie brachen Birn an den Franzbaͤumen
miteinander ab, und legten ſie ins Koͤrbchen, das
Thereſe am Arm trug. Dann kamen ſie an ei-
nen Aprikoſenbaum. Thereſe fand zwo aneinan-
der feſtgewachſne Aprikoſen; gab die eine Haͤlfte
ihrem Kronhelm und die andre aß ſie. Die
beyden Kerne, ſagte Kronhelm, wollen wir hier
in die Erde ſtecken, daß ſie beyeinander aufwach-
ſen; wenn die Baͤume groß werden, wollen wir
uns unter ihren Schatten ſetzen, und an dieſen
Tag denken! Thereſe laͤchelte, und ſteckte ihren
Kern neben Kronhelms ſeinem, in die Erde. —
Ach, die armen Balſaminen muͤſſen wir begieſ-
ſen! ſagte ſie; ſie ſtehn ſo traurig da, und ſen-
ken ihre Blaͤtter! Kronhelm ſprang zum Brun-
nen, und holte Waſſer, und begoß ſie. Sehen
Sie! ſagte er, wie ſie ſich ſchon allmaͤhlich wie-
der aufrichten! Denken Sie nicht, daß es uns
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