Meine Kraft nimmt ab; mein Leben welkt da- hin; aber meine Liebe grünt und wächst. Ewig ist sie, wie das ewige Licht, das in der Lampe brennt im Chor. Der Hauch des Todes wird sie nicht auslöschen, oder meine Seele stürbe mit. Wenn die Glocke mich erweckt zum Beten, so ists, als ob mir deine Stimme rufte, du Erwähl- ter. Du befeuerst meine Andacht, und hebst hoch mein Herz. -- Oft zittert meine Seele, daß sie dich erblickt am Altar, wenn sie betet; aber du bist ja heilig, und darfst wohl vor Gott erscheinen. -- Meine Schwestern fragen mich, warum ich blaß sey? Sie bedauren mich, und weinen, daß ich nahe sey dem Grabe. O, sie wissen nicht, wie süß das Grab ist; und sehn doch so blaß aus; oder gibts noch andre Leiden, als den Schmerz trostloser Liebe?
Am ersten Jenner.
Jhr fangt in der Welt ein nenes Jahr an. Das alte gab mir Thränen; wird das neue mir den Tod geben? Ja, ich hoff ihn, Lieber; denn mein Auge wird trüb und matt; meine Kräfte
Am 30ſten November.
Meine Kraft nimmt ab; mein Leben welkt da- hin; aber meine Liebe gruͤnt und waͤchſt. Ewig iſt ſie, wie das ewige Licht, das in der Lampe brennt im Chor. Der Hauch des Todes wird ſie nicht ausloͤſchen, oder meine Seele ſtuͤrbe mit. Wenn die Glocke mich erweckt zum Beten, ſo iſts, als ob mir deine Stimme rufte, du Erwaͤhl- ter. Du befeuerſt meine Andacht, und hebſt hoch mein Herz. — Oft zittert meine Seele, daß ſie dich erblickt am Altar, wenn ſie betet; aber du biſt ja heilig, und darfſt wohl vor Gott erſcheinen. — Meine Schweſtern fragen mich, warum ich blaß ſey? Sie bedauren mich, und weinen, daß ich nahe ſey dem Grabe. O, ſie wiſſen nicht, wie ſuͤß das Grab iſt; und ſehn doch ſo blaß aus; oder gibts noch andre Leiden, als den Schmerz troſtloſer Liebe?
Am erſten Jenner.
Jhr fangt in der Welt ein nenes Jahr an. Das alte gab mir Thraͤnen; wird das neue mir den Tod geben? Ja, ich hoff ihn, Lieber; denn mein Auge wird truͤb und matt; meine Kraͤfte
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Am 30ſten November.
Meine Kraft nimmt ab; mein Leben welkt da-
hin; aber meine Liebe gruͤnt und waͤchſt. Ewig
iſt ſie, wie das ewige Licht, das in der Lampe
brennt im Chor. Der Hauch des Todes wird ſie
nicht ausloͤſchen, oder meine Seele ſtuͤrbe mit.
Wenn die Glocke mich erweckt zum Beten, ſo
iſts, als ob mir deine Stimme rufte, du Erwaͤhl-
ter. Du befeuerſt meine Andacht, und hebſt hoch
mein Herz. — Oft zittert meine Seele, daß ſie
dich erblickt am Altar, wenn ſie betet; aber du biſt
ja heilig, und darfſt wohl vor Gott erſcheinen. —
Meine Schweſtern fragen mich, warum ich blaß
ſey? Sie bedauren mich, und weinen, daß ich
nahe ſey dem Grabe. O, ſie wiſſen nicht, wie ſuͤß
das Grab iſt; und ſehn doch ſo blaß aus; oder gibts
noch andre Leiden, als den Schmerz troſtloſer
Liebe?
Am erſten Jenner.
Jhr fangt in der Welt ein nenes Jahr an.
Das alte gab mir Thraͤnen; wird das neue mir
den Tod geben? Ja, ich hoff ihn, Lieber; denn
mein Auge wird truͤb und matt; meine Kraͤfte
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/110>, abgerufen am 25.11.2024.
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