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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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der Kirche zu sehen. Hundertmal des Tags sah
er nach seinem Wandkalender, wie viel Tage es
noch dahin bis sey? Jmmer vergaß ers wieder, und
rechnete oft einen Tag weniger. Zuletzt zählte er
sogar die Stunden. Er stellte sich vor, was er thun,
wo und wie er sich anstellen wolle? wenn sie in die
Kirche komme. Als der Sonntag kam, wachte er
früh auf, kräuselte seine Haare sehr sorgfältig, und
kleidete sich prächtiger und netter, wie gewöhnlich.
Jn der Frühmesse traf er das Mädchen nicht.
Sein Herz erhub sich zu Gott mit schwärmerischer
Andacht; seine Einbildungskraft drang bis an den
Thron der Gottheit; sein Geist war ausser dem
Leibe, und unmittelbar im Himmel. Auf Einmal
überfiel ihn wieder eine äusserliche Beklemmung;
sein Herz klopfte laut und sichtbar. Alle Augen-
blicke, dacht' er, kann sie kommen, und neben mir
niederknien. Er bebte vor dem Augenblick, und
wünschte ihn doch so sehnlich herbey. -- Jn die
Predigt kam das Mädchen auch nicht. Sein Au-
ge suchte ängstlich umher, verweilte auf jedem gut-
gekleideten Frauenzimmer, und wandte sich unwil-
lig wieder weg, weil es nicht fand, was es suchte.
So oft die Kirchenthüre aufgieng, blickte er hin,

O o



der Kirche zu ſehen. Hundertmal des Tags ſah
er nach ſeinem Wandkalender, wie viel Tage es
noch dahin bis ſey? Jmmer vergaß ers wieder, und
rechnete oft einen Tag weniger. Zuletzt zaͤhlte er
ſogar die Stunden. Er ſtellte ſich vor, was er thun,
wo und wie er ſich anſtellen wolle? wenn ſie in die
Kirche komme. Als der Sonntag kam, wachte er
fruͤh auf, kraͤuſelte ſeine Haare ſehr ſorgfaͤltig, und
kleidete ſich praͤchtiger und netter, wie gewoͤhnlich.
Jn der Fruͤhmeſſe traf er das Maͤdchen nicht.
Sein Herz erhub ſich zu Gott mit ſchwaͤrmeriſcher
Andacht; ſeine Einbildungskraft drang bis an den
Thron der Gottheit; ſein Geiſt war auſſer dem
Leibe, und unmittelbar im Himmel. Auf Einmal
uͤberfiel ihn wieder eine aͤuſſerliche Beklemmung;
ſein Herz klopfte laut und ſichtbar. Alle Augen-
blicke, dacht’ er, kann ſie kommen, und neben mir
niederknien. Er bebte vor dem Augenblick, und
wuͤnſchte ihn doch ſo ſehnlich herbey. — Jn die
Predigt kam das Maͤdchen auch nicht. Sein Au-
ge ſuchte aͤngſtlich umher, verweilte auf jedem gut-
gekleideten Frauenzimmer, und wandte ſich unwil-
lig wieder weg, weil es nicht fand, was es ſuchte.
So oft die Kirchenthuͤre aufgieng, blickte er hin,

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[569/0149] der Kirche zu ſehen. Hundertmal des Tags ſah er nach ſeinem Wandkalender, wie viel Tage es noch dahin bis ſey? Jmmer vergaß ers wieder, und rechnete oft einen Tag weniger. Zuletzt zaͤhlte er ſogar die Stunden. Er ſtellte ſich vor, was er thun, wo und wie er ſich anſtellen wolle? wenn ſie in die Kirche komme. Als der Sonntag kam, wachte er fruͤh auf, kraͤuſelte ſeine Haare ſehr ſorgfaͤltig, und kleidete ſich praͤchtiger und netter, wie gewoͤhnlich. Jn der Fruͤhmeſſe traf er das Maͤdchen nicht. Sein Herz erhub ſich zu Gott mit ſchwaͤrmeriſcher Andacht; ſeine Einbildungskraft drang bis an den Thron der Gottheit; ſein Geiſt war auſſer dem Leibe, und unmittelbar im Himmel. Auf Einmal uͤberfiel ihn wieder eine aͤuſſerliche Beklemmung; ſein Herz klopfte laut und ſichtbar. Alle Augen- blicke, dacht’ er, kann ſie kommen, und neben mir niederknien. Er bebte vor dem Augenblick, und wuͤnſchte ihn doch ſo ſehnlich herbey. — Jn die Predigt kam das Maͤdchen auch nicht. Sein Au- ge ſuchte aͤngſtlich umher, verweilte auf jedem gut- gekleideten Frauenzimmer, und wandte ſich unwil- lig wieder weg, weil es nicht fand, was es ſuchte. So oft die Kirchenthuͤre aufgieng, blickte er hin, O o

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 569. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/149>, abgerufen am 29.11.2024.