Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.und zitterte. Sie kam nicht. Nach der Predigt gieng er in den Chor, kniete auf die Stelle nie- der, wo sie gekniet, und die er sich so genau gemerkt hatte. So oft er etwas hinter sich gehen, oder ein seidenes Gewand rauschen hörte, ward ihm bange; ängstlich blickte er dann um sich, weil er fürchtete, jedermann bemerke ihn: Einmal sah er ein Mädchen mit einem Flor vor dem Ge- sicht ihm zur Rechten niederknien. Es hatte die schlanke Gestalt seines Mädchens. Sein Gesicht glühte, er zitterte, sein Gebet ward laut; er glaub- te zu vergehen und zu sinken. Schwankend stand er auf. Das Mädchen war nicht das seini- ge. Heilige Mutter Gottes! dachte er, wo ist sie? -- Schnell steckte er den Rosenkranz ein, gieng aus der Kirche, ohne das Weihwasser zu nehmen, und nach der obern Stadtkirche. Hier fand er sie wieder nicht. Nun überfiel ihn tiefe Wehmuth. Tausenderley traurige Vorstellungen bekämpften sich in seiner Brust: Jst sie krank? Jst sie todt? Hab ich sie durch meinen Blick erzürnt? Hätt ich sie doch nie gesehen! Stürb ich doch auch! O ich bin der unglücklichste Mensch auf Gottes Erdboden! -- Er gieng heim, und weinte, rang die Hände und betete. Kronhelm kam zu ihm und zitterte. Sie kam nicht. Nach der Predigt gieng er in den Chor, kniete auf die Stelle nie- der, wo ſie gekniet, und die er ſich ſo genau gemerkt hatte. So oft er etwas hinter ſich gehen, oder ein ſeidenes Gewand rauſchen hoͤrte, ward ihm bange; aͤngſtlich blickte er dann um ſich, weil er fuͤrchtete, jedermann bemerke ihn: Einmal ſah er ein Maͤdchen mit einem Flor vor dem Ge- ſicht ihm zur Rechten niederknien. Es hatte die ſchlanke Geſtalt ſeines Maͤdchens. Sein Geſicht gluͤhte, er zitterte, ſein Gebet ward laut; er glaub- te zu vergehen und zu ſinken. Schwankend ſtand er auf. Das Maͤdchen war nicht das ſeini- ge. Heilige Mutter Gottes! dachte er, wo iſt ſie? — Schnell ſteckte er den Roſenkranz ein, gieng aus der Kirche, ohne das Weihwaſſer zu nehmen, und nach der obern Stadtkirche. Hier fand er ſie wieder nicht. Nun uͤberfiel ihn tiefe Wehmuth. Tauſenderley traurige Vorſtellungen bekaͤmpften ſich in ſeiner Bruſt: Jſt ſie krank? Jſt ſie todt? Hab ich ſie durch meinen Blick erzuͤrnt? Haͤtt ich ſie doch nie geſehen! Stuͤrb ich doch auch! O ich bin der ungluͤcklichſte Menſch auf Gottes Erdboden! — Er gieng heim, und weinte, rang die Haͤnde und betete. Kronhelm kam zu ihm <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0150" n="570"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> und zitterte. Sie kam nicht. Nach der Predigt<lb/> gieng er in den Chor, kniete auf die Stelle nie-<lb/> der, wo ſie gekniet, und die er ſich ſo genau<lb/> gemerkt hatte. So oft er etwas hinter ſich<lb/> gehen, oder ein ſeidenes Gewand rauſchen hoͤrte,<lb/> ward ihm bange; aͤngſtlich blickte er dann um ſich,<lb/> weil er fuͤrchtete, jedermann bemerke ihn: Einmal<lb/> ſah er ein Maͤdchen mit einem Flor vor dem Ge-<lb/> ſicht ihm zur Rechten niederknien. Es hatte die<lb/> ſchlanke Geſtalt ſeines Maͤdchens. Sein Geſicht<lb/> gluͤhte, er zitterte, ſein Gebet ward laut; er glaub-<lb/> te zu vergehen und zu ſinken. Schwankend<lb/> ſtand er auf. Das Maͤdchen war nicht das ſeini-<lb/> ge. Heilige Mutter Gottes! dachte er, wo iſt<lb/> ſie? — Schnell ſteckte er den Roſenkranz ein,<lb/> gieng aus der Kirche, ohne das Weihwaſſer zu<lb/> nehmen, und nach der obern Stadtkirche. Hier<lb/> fand er ſie wieder nicht. Nun uͤberfiel ihn tiefe<lb/> Wehmuth. Tauſenderley traurige Vorſtellungen<lb/> bekaͤmpften ſich in ſeiner Bruſt: Jſt ſie krank? Jſt<lb/> ſie todt? Hab ich ſie durch meinen Blick erzuͤrnt?<lb/> Haͤtt ich ſie doch nie geſehen! Stuͤrb ich doch<lb/> auch! O ich bin der ungluͤcklichſte Menſch auf<lb/> Gottes Erdboden! — Er gieng heim, und weinte,<lb/> rang die Haͤnde und betete. Kronhelm kam zu ihm<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [570/0150]
und zitterte. Sie kam nicht. Nach der Predigt
gieng er in den Chor, kniete auf die Stelle nie-
der, wo ſie gekniet, und die er ſich ſo genau
gemerkt hatte. So oft er etwas hinter ſich
gehen, oder ein ſeidenes Gewand rauſchen hoͤrte,
ward ihm bange; aͤngſtlich blickte er dann um ſich,
weil er fuͤrchtete, jedermann bemerke ihn: Einmal
ſah er ein Maͤdchen mit einem Flor vor dem Ge-
ſicht ihm zur Rechten niederknien. Es hatte die
ſchlanke Geſtalt ſeines Maͤdchens. Sein Geſicht
gluͤhte, er zitterte, ſein Gebet ward laut; er glaub-
te zu vergehen und zu ſinken. Schwankend
ſtand er auf. Das Maͤdchen war nicht das ſeini-
ge. Heilige Mutter Gottes! dachte er, wo iſt
ſie? — Schnell ſteckte er den Roſenkranz ein,
gieng aus der Kirche, ohne das Weihwaſſer zu
nehmen, und nach der obern Stadtkirche. Hier
fand er ſie wieder nicht. Nun uͤberfiel ihn tiefe
Wehmuth. Tauſenderley traurige Vorſtellungen
bekaͤmpften ſich in ſeiner Bruſt: Jſt ſie krank? Jſt
ſie todt? Hab ich ſie durch meinen Blick erzuͤrnt?
Haͤtt ich ſie doch nie geſehen! Stuͤrb ich doch
auch! O ich bin der ungluͤcklichſte Menſch auf
Gottes Erdboden! — Er gieng heim, und weinte,
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Zitationshilfe: | Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/150>, abgerufen am 16.07.2024. |