kanns nicht! -- Und nun schwiegen sie lang. -- Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub Kronhelm wieder an. Wenn sie mich vergessen, mir untreu werden könnte. -- Und doch! -- soll sie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we- nigstens ohne Gewißheit, sogar ohne Wahrschein- lichkeit: O, mein Leiden ist das gröste! Duld und harre! sagte Siegwart. Die Leiden auf der Welt sind mancherley. Jch bin auch nicht glücklich. -- Er wollte reden; aber eine plötzliche Aengstlichkeit hielt ihn wieder zurück.
Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei- dete sich gut, und gieng voll banger Ahndung in die Kirche. Er setzte sich in einen Stuhl, von dem er die ganze Kirche übersehen konnte. Das Mäd- chen war noch nicht da. Er ward verwirrt drüber; dankte aber doch Gott für die Genesung seines Va- ters brünstig. Nach einer halben Stunde öfnete sich die Kirchenthüre, und das Mädchen trat her- ein, schwarz gekleidet, mit einer etwas bejährten Frau von angenehmer und sanfter Gesichtsbildung. Sein Herz schlug ungestüm. Sie setzte sich ihm gegenüber in einen vergitterten Stuhl, an dem aber das Gitter zurückgeschoben war. Sie setzte sich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei-
kanns nicht! — Und nun ſchwiegen ſie lang. — Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub Kronhelm wieder an. Wenn ſie mich vergeſſen, mir untreu werden koͤnnte. — Und doch! — ſoll ſie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we- nigſtens ohne Gewißheit, ſogar ohne Wahrſchein- lichkeit: O, mein Leiden iſt das groͤſte! Duld und harre! ſagte Siegwart. Die Leiden auf der Welt ſind mancherley. Jch bin auch nicht gluͤcklich. — Er wollte reden; aber eine ploͤtzliche Aengſtlichkeit hielt ihn wieder zuruͤck.
Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei- dete ſich gut, und gieng voll banger Ahndung in die Kirche. Er ſetzte ſich in einen Stuhl, von dem er die ganze Kirche uͤberſehen konnte. Das Maͤd- chen war noch nicht da. Er ward verwirrt druͤber; dankte aber doch Gott fuͤr die Geneſung ſeines Va- ters bruͤnſtig. Nach einer halben Stunde oͤfnete ſich die Kirchenthuͤre, und das Maͤdchen trat her- ein, ſchwarz gekleidet, mit einer etwas bejaͤhrten Frau von angenehmer und ſanfter Geſichtsbildung. Sein Herz ſchlug ungeſtuͤm. Sie ſetzte ſich ihm gegenuͤber in einen vergitterten Stuhl, an dem aber das Gitter zuruͤckgeſchoben war. Sie ſetzte ſich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei-
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kanns nicht! — Und nun ſchwiegen ſie lang. —
Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub
Kronhelm wieder an. Wenn ſie mich vergeſſen,
mir untreu werden koͤnnte. — Und doch! — ſoll
ſie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we-
nigſtens ohne Gewißheit, ſogar ohne Wahrſchein-
lichkeit: O, mein Leiden iſt das groͤſte! Duld und
harre! ſagte Siegwart. Die Leiden auf der Welt
ſind mancherley. Jch bin auch nicht gluͤcklich. —
Er wollte reden; aber eine ploͤtzliche Aengſtlichkeit
hielt ihn wieder zuruͤck.
Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei-
dete ſich gut, und gieng voll banger Ahndung in
die Kirche. Er ſetzte ſich in einen Stuhl, von dem
er die ganze Kirche uͤberſehen konnte. Das Maͤd-
chen war noch nicht da. Er ward verwirrt druͤber;
dankte aber doch Gott fuͤr die Geneſung ſeines Va-
ters bruͤnſtig. Nach einer halben Stunde oͤfnete
ſich die Kirchenthuͤre, und das Maͤdchen trat her-
ein, ſchwarz gekleidet, mit einer etwas bejaͤhrten
Frau von angenehmer und ſanfter Geſichtsbildung.
Sein Herz ſchlug ungeſtuͤm. Sie ſetzte ſich ihm
gegenuͤber in einen vergitterten Stuhl, an dem
aber das Gitter zuruͤckgeſchoben war. Sie ſetzte
ſich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei-
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/155>, abgerufen am 30.11.2024.
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