Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.len erhub sie ihr schönes nußbraunes Auge zum Himmel; drey- oder viermal glaubte er, sie seh ihn aufmerksam an; und ihm ward bald warm, bald kalt in der Brust. Er hieng mit ganzer Seele an ihr; sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, wie auf dem Antlitz einer Heiligen. Er konnte den unendli- chen Reiz nicht fassen, der sich über das Ganze verbreitete. Alles um sich her vergaß er, Himmel und Erde, und wuste nicht mehr, daß er in der Kirche war. Er dachte nichts; sein ganzes Wesen war Gefühl. Sie sah ihn an; Er schlug die Au- gen nieder, als ob ein Blitz ihn blendete. Gleich sah er wieder auf; sie war verschwunden. Ein breitschultriger Mann mit einer grossen Perücke hatte sich vor sie hingesetzt, und ihm den Anblick des himmlischen Gesichts benommen. Nur zuwei- len, wenn der Mann sich bückte, sah er sie auf ei- nen Augenblick. Der Mann ward ihm auf Ein- mal unaussprechlich zuwider. Er knirschte mit den Zähnen, und hätt ihn gern mit den Füssen wegge- stossen. -- Der dumme, kalte Kerl! dachte er, mit dem abscheulichen Alltagsgesicht! Jch wollte, daß er hundert Meilen weit von hier wäre! -- Nach der Messe stund das Mädchen, mit der Frau auf; gieng in den Chor vor den Altar und len erhub ſie ihr ſchoͤnes nußbraunes Auge zum Himmel; drey- oder viermal glaubte er, ſie ſeh ihn aufmerkſam an; und ihm ward bald warm, bald kalt in der Bruſt. Er hieng mit ganzer Seele an ihr; ſein Blick ruhte auf ihrem Geſicht, wie auf dem Antlitz einer Heiligen. Er konnte den unendli- chen Reiz nicht faſſen, der ſich uͤber das Ganze verbreitete. Alles um ſich her vergaß er, Himmel und Erde, und wuſte nicht mehr, daß er in der Kirche war. Er dachte nichts; ſein ganzes Weſen war Gefuͤhl. Sie ſah ihn an; Er ſchlug die Au- gen nieder, als ob ein Blitz ihn blendete. Gleich ſah er wieder auf; ſie war verſchwunden. Ein breitſchultriger Mann mit einer groſſen Peruͤcke hatte ſich vor ſie hingeſetzt, und ihm den Anblick des himmliſchen Geſichts benommen. Nur zuwei- len, wenn der Mann ſich buͤckte, ſah er ſie auf ei- nen Augenblick. Der Mann ward ihm auf Ein- mal unausſprechlich zuwider. Er knirſchte mit den Zaͤhnen, und haͤtt ihn gern mit den Fuͤſſen wegge- ſtoſſen. — Der dumme, kalte Kerl! dachte er, mit dem abſcheulichen Alltagsgeſicht! Jch wollte, daß er hundert Meilen weit von hier waͤre! — Nach der Meſſe ſtund das Maͤdchen, mit der Frau auf; gieng in den Chor vor den Altar und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0156" n="576"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> len erhub ſie ihr ſchoͤnes nußbraunes Auge zum<lb/> Himmel; drey- oder viermal glaubte er, ſie ſeh ihn<lb/> aufmerkſam an; und ihm ward bald warm, bald<lb/> kalt in der Bruſt. Er hieng mit ganzer Seele an<lb/> ihr; ſein Blick ruhte auf ihrem Geſicht, wie auf<lb/> dem Antlitz einer Heiligen. Er konnte den unendli-<lb/> chen Reiz nicht faſſen, der ſich uͤber das Ganze<lb/> verbreitete. Alles um ſich her vergaß er, Himmel<lb/> und Erde, und wuſte nicht mehr, daß er in der<lb/> Kirche war. Er dachte nichts; ſein ganzes Weſen<lb/> war Gefuͤhl. Sie ſah ihn an; Er ſchlug die Au-<lb/> gen nieder, als ob ein Blitz ihn blendete. Gleich<lb/> ſah er wieder auf; ſie war verſchwunden. Ein<lb/> breitſchultriger Mann mit einer groſſen Peruͤcke<lb/> hatte ſich vor ſie hingeſetzt, und ihm den Anblick<lb/> des himmliſchen Geſichts benommen. Nur zuwei-<lb/> len, wenn der Mann ſich buͤckte, ſah er ſie auf ei-<lb/> nen Augenblick. Der Mann ward ihm auf Ein-<lb/> mal unausſprechlich zuwider. Er knirſchte mit den<lb/> Zaͤhnen, und haͤtt ihn gern mit den Fuͤſſen wegge-<lb/> ſtoſſen. — Der dumme, kalte Kerl! dachte er,<lb/> mit dem abſcheulichen Alltagsgeſicht! Jch wollte,<lb/> daß er hundert Meilen weit von hier waͤre! —<lb/> Nach der Meſſe ſtund das Maͤdchen, mit der<lb/> Frau auf; gieng in den Chor vor den Altar und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [576/0156]
len erhub ſie ihr ſchoͤnes nußbraunes Auge zum
Himmel; drey- oder viermal glaubte er, ſie ſeh ihn
aufmerkſam an; und ihm ward bald warm, bald
kalt in der Bruſt. Er hieng mit ganzer Seele an
ihr; ſein Blick ruhte auf ihrem Geſicht, wie auf
dem Antlitz einer Heiligen. Er konnte den unendli-
chen Reiz nicht faſſen, der ſich uͤber das Ganze
verbreitete. Alles um ſich her vergaß er, Himmel
und Erde, und wuſte nicht mehr, daß er in der
Kirche war. Er dachte nichts; ſein ganzes Weſen
war Gefuͤhl. Sie ſah ihn an; Er ſchlug die Au-
gen nieder, als ob ein Blitz ihn blendete. Gleich
ſah er wieder auf; ſie war verſchwunden. Ein
breitſchultriger Mann mit einer groſſen Peruͤcke
hatte ſich vor ſie hingeſetzt, und ihm den Anblick
des himmliſchen Geſichts benommen. Nur zuwei-
len, wenn der Mann ſich buͤckte, ſah er ſie auf ei-
nen Augenblick. Der Mann ward ihm auf Ein-
mal unausſprechlich zuwider. Er knirſchte mit den
Zaͤhnen, und haͤtt ihn gern mit den Fuͤſſen wegge-
ſtoſſen. — Der dumme, kalte Kerl! dachte er,
mit dem abſcheulichen Alltagsgeſicht! Jch wollte,
daß er hundert Meilen weit von hier waͤre! —
Nach der Meſſe ſtund das Maͤdchen, mit der
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Zitationshilfe: | Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/156>, abgerufen am 16.07.2024. |