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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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das neben ihr kniete, und aus dem Kelch trank.
Nun betete sie, und seine Seele flog mit ihr zum
Himmel. -- Gott! ach Gott, laß sie mein seyn!
Sey ihr gnädig, und erhöre mein Gebet! -- Wei-
ter konnte er nichts denken. --

Noch lag er auf den Knien, in der Absicht, zu
warten, bis sie weg gienge, und zu erfahren, in wel-
ches Haus sie gehöre? als er auf Einmal durch
einen Stoß, den ihm jemand, neben ihm, gab, aus
seiner Schwärmerey aufgeweckt wurde. Kronhelm,
den er nicht wahrgenommen hatte, stand neben ihm,
und winkte, mit ihm weg zu gehen. Er stand un-
willig auf, und suchte seine Verwirrung seinem
Freunde zu verbergen. So bös er drüber war, so
durft er es doch seinen Freund nicht merken lassen,
und gieng mit ihm aus der Kirche. -- Laß uns
etwas spatzieren gehen! sagte Kronhelm; der Tag
ist so schön. -- Meinetwegen! antwortete Sieg-
wart.

Sie giengen mit einander durch die Stadt, ohne
ein Wort zu sprechen. Siegwart war ganz in Ge-
danken verlohren, und bey seinem lieben Mädchen
in der Kirche. Es schmerzte ihn tief, daß er so von
ihr weggerissen worden war, und ihre Wohnung
nicht hatte erfahren können. Sich nach ihr bey



das neben ihr kniete, und aus dem Kelch trank.
Nun betete ſie, und ſeine Seele flog mit ihr zum
Himmel. — Gott! ach Gott, laß ſie mein ſeyn!
Sey ihr gnaͤdig, und erhoͤre mein Gebet! — Wei-
ter konnte er nichts denken. —

Noch lag er auf den Knien, in der Abſicht, zu
warten, bis ſie weg gienge, und zu erfahren, in wel-
ches Haus ſie gehoͤre? als er auf Einmal durch
einen Stoß, den ihm jemand, neben ihm, gab, aus
ſeiner Schwaͤrmerey aufgeweckt wurde. Kronhelm,
den er nicht wahrgenommen hatte, ſtand neben ihm,
und winkte, mit ihm weg zu gehen. Er ſtand un-
willig auf, und ſuchte ſeine Verwirrung ſeinem
Freunde zu verbergen. So boͤs er druͤber war, ſo
durft er es doch ſeinen Freund nicht merken laſſen,
und gieng mit ihm aus der Kirche. — Laß uns
etwas ſpatzieren gehen! ſagte Kronhelm; der Tag
iſt ſo ſchoͤn. — Meinetwegen! antwortete Sieg-
wart.

Sie giengen mit einander durch die Stadt, ohne
ein Wort zu ſprechen. Siegwart war ganz in Ge-
danken verlohren, und bey ſeinem lieben Maͤdchen
in der Kirche. Es ſchmerzte ihn tief, daß er ſo von
ihr weggeriſſen worden war, und ihre Wohnung
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[578/0158] das neben ihr kniete, und aus dem Kelch trank. Nun betete ſie, und ſeine Seele flog mit ihr zum Himmel. — Gott! ach Gott, laß ſie mein ſeyn! Sey ihr gnaͤdig, und erhoͤre mein Gebet! — Wei- ter konnte er nichts denken. — Noch lag er auf den Knien, in der Abſicht, zu warten, bis ſie weg gienge, und zu erfahren, in wel- ches Haus ſie gehoͤre? als er auf Einmal durch einen Stoß, den ihm jemand, neben ihm, gab, aus ſeiner Schwaͤrmerey aufgeweckt wurde. Kronhelm, den er nicht wahrgenommen hatte, ſtand neben ihm, und winkte, mit ihm weg zu gehen. Er ſtand un- willig auf, und ſuchte ſeine Verwirrung ſeinem Freunde zu verbergen. So boͤs er druͤber war, ſo durft er es doch ſeinen Freund nicht merken laſſen, und gieng mit ihm aus der Kirche. — Laß uns etwas ſpatzieren gehen! ſagte Kronhelm; der Tag iſt ſo ſchoͤn. — Meinetwegen! antwortete Sieg- wart. Sie giengen mit einander durch die Stadt, ohne ein Wort zu ſprechen. Siegwart war ganz in Ge- danken verlohren, und bey ſeinem lieben Maͤdchen in der Kirche. Es ſchmerzte ihn tief, daß er ſo von ihr weggeriſſen worden war, und ihre Wohnung nicht hatte erfahren koͤnnen. Sich nach ihr bey

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/158>, abgerufen am 30.11.2024.