Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite


Sie hielten nun noch zu Haus ein kleines Kon-
cert, das, weil alle gleich traurig gestimmt waren,
gröstentheils aus wehmüthigen Trios bestand. Nach-
dem Siegwart sich den ganzen Abend nach dem
Koncert mit dem Gedanken an seine himmlische
Unbekannte beschäftiget hatte, so wünschte er nichts
mehr, als von ihr zu träumen, und sie wenigstens
im Traum zu sehen. Aber diese Wohlthat ward
ihm nicht zu Theil. Er wünschte sie sich so oft,
und immer umsonst. Zu lebhafte und gegenwärti-
ge Vorstellungen kommen selten im Traume wieder;
sie müssen mehrentheils erst mit dem Flor der Ver-
gangenheit umzogen seyn.

Als Siegwart ein paar Tage drauf des Nach-
mittags um drey Uhr aus dem Kollegio gieng, da
sah er, etliche Häuser vor ihm, sein geliebtes Mäd-
chen gehen. Das Herz schlug ihm, und er eilte,
was er konnte. Sie gieng in ein gutgebautes Haus
hinein. Wer wohnt hier? sagte er in der Ver-
wirrung zu einem kleinen zwölfjährigen Mädchen,
und erschrack gleich selbst wieder über seine Frage.
Es wohnt ein reicher Herr da, sagte das Mädchen;
man nennt ihn nur Herr Spiegel. Jetzt wuste
er so viel, wie vorhin, und wagte es doch nicht,
sonst jemand um den Herrn Spiegel zu fragen;



Sie hielten nun noch zu Haus ein kleines Kon-
cert, das, weil alle gleich traurig geſtimmt waren,
groͤſtentheils aus wehmuͤthigen Trios beſtand. Nach-
dem Siegwart ſich den ganzen Abend nach dem
Koncert mit dem Gedanken an ſeine himmliſche
Unbekannte beſchaͤftiget hatte, ſo wuͤnſchte er nichts
mehr, als von ihr zu traͤumen, und ſie wenigſtens
im Traum zu ſehen. Aber dieſe Wohlthat ward
ihm nicht zu Theil. Er wuͤnſchte ſie ſich ſo oft,
und immer umſonſt. Zu lebhafte und gegenwaͤrti-
ge Vorſtellungen kommen ſelten im Traume wieder;
ſie muͤſſen mehrentheils erſt mit dem Flor der Ver-
gangenheit umzogen ſeyn.

Als Siegwart ein paar Tage drauf des Nach-
mittags um drey Uhr aus dem Kollegio gieng, da
ſah er, etliche Haͤuſer vor ihm, ſein geliebtes Maͤd-
chen gehen. Das Herz ſchlug ihm, und er eilte,
was er konnte. Sie gieng in ein gutgebautes Haus
hinein. Wer wohnt hier? ſagte er in der Ver-
wirrung zu einem kleinen zwoͤlfjaͤhrigen Maͤdchen,
und erſchrack gleich ſelbſt wieder uͤber ſeine Frage.
Es wohnt ein reicher Herr da, ſagte das Maͤdchen;
man nennt ihn nur Herr Spiegel. Jetzt wuſte
er ſo viel, wie vorhin, und wagte es doch nicht,
ſonſt jemand um den Herrn Spiegel zu fragen;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0168" n="588"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Sie hielten nun noch zu Haus ein kleines Kon-<lb/>
cert, das, weil alle gleich traurig ge&#x017F;timmt waren,<lb/>
gro&#x0364;&#x017F;tentheils aus wehmu&#x0364;thigen Trios be&#x017F;tand. Nach-<lb/>
dem Siegwart &#x017F;ich den ganzen Abend nach dem<lb/>
Koncert mit dem Gedanken an &#x017F;eine himmli&#x017F;che<lb/>
Unbekannte be&#x017F;cha&#x0364;ftiget hatte, &#x017F;o wu&#x0364;n&#x017F;chte er nichts<lb/>
mehr, als von ihr zu tra&#x0364;umen, und &#x017F;ie wenig&#x017F;tens<lb/>
im Traum zu &#x017F;ehen. Aber die&#x017F;e Wohlthat ward<lb/>
ihm nicht zu Theil. Er wu&#x0364;n&#x017F;chte &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;o oft,<lb/>
und immer um&#x017F;on&#x017F;t. Zu lebhafte und gegenwa&#x0364;rti-<lb/>
ge Vor&#x017F;tellungen kommen &#x017F;elten im Traume wieder;<lb/>
&#x017F;ie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en mehrentheils er&#x017F;t mit dem Flor der Ver-<lb/>
gangenheit umzogen &#x017F;eyn.</p><lb/>
        <p>Als Siegwart ein paar Tage drauf des Nach-<lb/>
mittags um drey Uhr aus dem Kollegio gieng, da<lb/>
&#x017F;ah er, etliche Ha&#x0364;u&#x017F;er vor ihm, &#x017F;ein geliebtes Ma&#x0364;d-<lb/>
chen gehen. Das Herz &#x017F;chlug ihm, und er eilte,<lb/>
was er konnte. Sie gieng in ein gutgebautes Haus<lb/>
hinein. Wer wohnt hier? &#x017F;agte er in der Ver-<lb/>
wirrung zu einem kleinen zwo&#x0364;lfja&#x0364;hrigen Ma&#x0364;dchen,<lb/>
und er&#x017F;chrack gleich &#x017F;elb&#x017F;t wieder u&#x0364;ber &#x017F;eine Frage.<lb/>
Es wohnt ein reicher Herr da, &#x017F;agte das Ma&#x0364;dchen;<lb/>
man nennt ihn nur Herr <hi rendition="#fr">Spiegel.</hi> Jetzt wu&#x017F;te<lb/>
er &#x017F;o viel, wie vorhin, und wagte es doch nicht,<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t jemand um den Herrn <hi rendition="#fr">Spiegel</hi> zu fragen;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[588/0168] Sie hielten nun noch zu Haus ein kleines Kon- cert, das, weil alle gleich traurig geſtimmt waren, groͤſtentheils aus wehmuͤthigen Trios beſtand. Nach- dem Siegwart ſich den ganzen Abend nach dem Koncert mit dem Gedanken an ſeine himmliſche Unbekannte beſchaͤftiget hatte, ſo wuͤnſchte er nichts mehr, als von ihr zu traͤumen, und ſie wenigſtens im Traum zu ſehen. Aber dieſe Wohlthat ward ihm nicht zu Theil. Er wuͤnſchte ſie ſich ſo oft, und immer umſonſt. Zu lebhafte und gegenwaͤrti- ge Vorſtellungen kommen ſelten im Traume wieder; ſie muͤſſen mehrentheils erſt mit dem Flor der Ver- gangenheit umzogen ſeyn. Als Siegwart ein paar Tage drauf des Nach- mittags um drey Uhr aus dem Kollegio gieng, da ſah er, etliche Haͤuſer vor ihm, ſein geliebtes Maͤd- chen gehen. Das Herz ſchlug ihm, und er eilte, was er konnte. Sie gieng in ein gutgebautes Haus hinein. Wer wohnt hier? ſagte er in der Ver- wirrung zu einem kleinen zwoͤlfjaͤhrigen Maͤdchen, und erſchrack gleich ſelbſt wieder uͤber ſeine Frage. Es wohnt ein reicher Herr da, ſagte das Maͤdchen; man nennt ihn nur Herr Spiegel. Jetzt wuſte er ſo viel, wie vorhin, und wagte es doch nicht, ſonſt jemand um den Herrn Spiegel zu fragen;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/168
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 588. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/168>, abgerufen am 04.12.2024.