Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



merkte. Gegen Abend, als er wieder in die Stadt
kam, traf er gerade auf die Schlitten. Kronhelm
flog an ihm vorbey; er und Mariane grüsten.
Siegwart nahm den Hut trotzig ab, und setzte ihn
wieder tief ins Gesicht. Er gieng auf eine halbe
Stunde zu Gutfried, der sich nicht recht wohl
befand. Aber er konnte nicht lang an einem Orte
bleiben, und gieng wieder nach Haus. Gutfried
hatte ihn nach der Schlittenfahrt gefragt; er sagte
aber, er wüste nichts davon. Der ganze Abend,
und die Nacht war ihm eine der traurigsten und
quälendsten. Er machte sich tausend ungeheure Vor-
stellungen, die, so unwahrscheinlich sie auch waren,
seine aufgebrachte Leidenschaft für wahr hielt. --
Jetzt tanzt sie, dachte er; ist von Stutzern und
abgeschmackten Kerls umgeben; denkt an ihren ar-
men Freund, der hier im Stillen um sie traurt,
nicht einen Augenblick; reicht vielleicht meinem
glücklichern Freund die Hand, blickt ihn liebeschmach-
tend an! -- Gott ich kanns nicht aushalten!
Mach ein Ende mit mir! -- So quälte er sich
über eine Stunde mit den schrecklichsten Gedanken.
Endlich lehnte er sich matt in seinen Lehnstuhl
zurück und schlief ein. Erst nach drey Stunden,

R r



merkte. Gegen Abend, als er wieder in die Stadt
kam, traf er gerade auf die Schlitten. Kronhelm
flog an ihm vorbey; er und Mariane gruͤſten.
Siegwart nahm den Hut trotzig ab, und ſetzte ihn
wieder tief ins Geſicht. Er gieng auf eine halbe
Stunde zu Gutfried, der ſich nicht recht wohl
befand. Aber er konnte nicht lang an einem Orte
bleiben, und gieng wieder nach Haus. Gutfried
hatte ihn nach der Schlittenfahrt gefragt; er ſagte
aber, er wuͤſte nichts davon. Der ganze Abend,
und die Nacht war ihm eine der traurigſten und
quaͤlendſten. Er machte ſich tauſend ungeheure Vor-
ſtellungen, die, ſo unwahrſcheinlich ſie auch waren,
ſeine aufgebrachte Leidenſchaft fuͤr wahr hielt. —
Jetzt tanzt ſie, dachte er; iſt von Stutzern und
abgeſchmackten Kerls umgeben; denkt an ihren ar-
men Freund, der hier im Stillen um ſie traurt,
nicht einen Augenblick; reicht vielleicht meinem
gluͤcklichern Freund die Hand, blickt ihn liebeſchmach-
tend an! — Gott ich kanns nicht aushalten!
Mach ein Ende mit mir! — So quaͤlte er ſich
uͤber eine Stunde mit den ſchrecklichſten Gedanken.
Endlich lehnte er ſich matt in ſeinen Lehnſtuhl
zuruͤck und ſchlief ein. Erſt nach drey Stunden,

R r
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0197" n="617"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
merkte. Gegen Abend, als er wieder in die Stadt<lb/>
kam, traf er gerade auf die Schlitten. Kronhelm<lb/>
flog an ihm vorbey; er und Mariane gru&#x0364;&#x017F;ten.<lb/>
Siegwart nahm den Hut trotzig ab, und &#x017F;etzte ihn<lb/>
wieder tief ins Ge&#x017F;icht. Er gieng auf eine halbe<lb/>
Stunde zu Gutfried, der &#x017F;ich nicht recht wohl<lb/>
befand. Aber er konnte nicht lang an einem Orte<lb/>
bleiben, und gieng wieder nach Haus. Gutfried<lb/>
hatte ihn nach der Schlittenfahrt gefragt; er &#x017F;agte<lb/>
aber, er wu&#x0364;&#x017F;te nichts davon. Der ganze Abend,<lb/>
und die Nacht war ihm eine der traurig&#x017F;ten und<lb/>
qua&#x0364;lend&#x017F;ten. Er machte &#x017F;ich tau&#x017F;end ungeheure Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen, die, &#x017F;o unwahr&#x017F;cheinlich &#x017F;ie auch waren,<lb/>
&#x017F;eine aufgebrachte Leiden&#x017F;chaft fu&#x0364;r wahr hielt. &#x2014;<lb/>
Jetzt tanzt &#x017F;ie, dachte er; i&#x017F;t von Stutzern und<lb/>
abge&#x017F;chmackten Kerls umgeben; denkt an ihren ar-<lb/>
men Freund, der hier im Stillen um &#x017F;ie traurt,<lb/>
nicht einen Augenblick; reicht vielleicht meinem<lb/>
glu&#x0364;cklichern Freund die Hand, blickt ihn liebe&#x017F;chmach-<lb/>
tend an! &#x2014; Gott ich kanns nicht aushalten!<lb/>
Mach ein Ende mit mir! &#x2014; So qua&#x0364;lte er &#x017F;ich<lb/>
u&#x0364;ber eine Stunde mit den &#x017F;chrecklich&#x017F;ten Gedanken.<lb/>
Endlich lehnte er &#x017F;ich matt in &#x017F;einen Lehn&#x017F;tuhl<lb/>
zuru&#x0364;ck und &#x017F;chlief ein. Er&#x017F;t nach drey Stunden,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R r</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[617/0197] merkte. Gegen Abend, als er wieder in die Stadt kam, traf er gerade auf die Schlitten. Kronhelm flog an ihm vorbey; er und Mariane gruͤſten. Siegwart nahm den Hut trotzig ab, und ſetzte ihn wieder tief ins Geſicht. Er gieng auf eine halbe Stunde zu Gutfried, der ſich nicht recht wohl befand. Aber er konnte nicht lang an einem Orte bleiben, und gieng wieder nach Haus. Gutfried hatte ihn nach der Schlittenfahrt gefragt; er ſagte aber, er wuͤſte nichts davon. Der ganze Abend, und die Nacht war ihm eine der traurigſten und quaͤlendſten. Er machte ſich tauſend ungeheure Vor- ſtellungen, die, ſo unwahrſcheinlich ſie auch waren, ſeine aufgebrachte Leidenſchaft fuͤr wahr hielt. — Jetzt tanzt ſie, dachte er; iſt von Stutzern und abgeſchmackten Kerls umgeben; denkt an ihren ar- men Freund, der hier im Stillen um ſie traurt, nicht einen Augenblick; reicht vielleicht meinem gluͤcklichern Freund die Hand, blickt ihn liebeſchmach- tend an! — Gott ich kanns nicht aushalten! Mach ein Ende mit mir! — So quaͤlte er ſich uͤber eine Stunde mit den ſchrecklichſten Gedanken. Endlich lehnte er ſich matt in ſeinen Lehnſtuhl zuruͤck und ſchlief ein. Erſt nach drey Stunden, R r

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/197
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/197>, abgerufen am 11.12.2024.