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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Mutter, deine Mutter! Gott! ich habs verschul-
det! -- Karl! Karl! Sie hat mirs gesagt. Nun
warf er sich stumm über seinen Sohn her, küste
ihm den letzten Athem aus dem Mund; der Sohn
war todt. -- Der Vater setzte sich ans Bette,
sah den Sohn lang und starr an. Endlich mur-
melt' er: Gott! sobald mit deinen schrecklichen Ge-
richten! -- Hat er mir geflucht? -- Sie ge-
segnet, sagte Siegwart. -- Gut! ich habs doch
nicht verdient! versetzte der Vater. Hab doch sei-
ne Mutter ins Grab gebracht, durch Untreu! --
Aus dem Haus soll sie mir, der Hund! Jch kann
keine Hure sehn! Jch bin ein Ehebrecher! --
Lieber Karl! Bist du bey der Mutter? Ach, ver-
klag mich nicht! Verklag mich nicht! -- Nun
stürzte er sich wild über seinen todten Sohn her, und
küste ihn, daß er ihm die Lippen aufbiß. -- Der
Bube war doch fromm? Nicht? -- Nun, so
mag er für mich bitten! -- Aber, ach, nun
hab ich keinen Sohn mehr! habe keine Freunde
mehr im Alter! Ach, nun möcht ich sterben, weil
er todt ist! -- Du lieber, todter Sohn! Eine
Hure hat dir deines Vaters Herz gestohlen! Und
du bist gestorben; konntests länger nicht mehr an-
sehn! Sags deiner Mutter nicht, Karl! Um Got-



Mutter, deine Mutter! Gott! ich habs verſchul-
det! — Karl! Karl! Sie hat mirs geſagt. Nun
warf er ſich ſtumm uͤber ſeinen Sohn her, kuͤſte
ihm den letzten Athem aus dem Mund; der Sohn
war todt. — Der Vater ſetzte ſich ans Bette,
ſah den Sohn lang und ſtarr an. Endlich mur-
melt’ er: Gott! ſobald mit deinen ſchrecklichen Ge-
richten! — Hat er mir geflucht? — Sie ge-
ſegnet, ſagte Siegwart. — Gut! ich habs doch
nicht verdient! verſetzte der Vater. Hab doch ſei-
ne Mutter ins Grab gebracht, durch Untreu! —
Aus dem Haus ſoll ſie mir, der Hund! Jch kann
keine Hure ſehn! Jch bin ein Ehebrecher! —
Lieber Karl! Biſt du bey der Mutter? Ach, ver-
klag mich nicht! Verklag mich nicht! — Nun
ſtuͤrzte er ſich wild uͤber ſeinen todten Sohn her, und
kuͤſte ihn, daß er ihm die Lippen aufbiß. — Der
Bube war doch fromm? Nicht? — Nun, ſo
mag er fuͤr mich bitten! — Aber, ach, nun
hab ich keinen Sohn mehr! habe keine Freunde
mehr im Alter! Ach, nun moͤcht ich ſterben, weil
er todt iſt! — Du lieber, todter Sohn! Eine
Hure hat dir deines Vaters Herz geſtohlen! Und
du biſt geſtorben; konnteſts laͤnger nicht mehr an-
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[646/0226] Mutter, deine Mutter! Gott! ich habs verſchul- det! — Karl! Karl! Sie hat mirs geſagt. Nun warf er ſich ſtumm uͤber ſeinen Sohn her, kuͤſte ihm den letzten Athem aus dem Mund; der Sohn war todt. — Der Vater ſetzte ſich ans Bette, ſah den Sohn lang und ſtarr an. Endlich mur- melt’ er: Gott! ſobald mit deinen ſchrecklichen Ge- richten! — Hat er mir geflucht? — Sie ge- ſegnet, ſagte Siegwart. — Gut! ich habs doch nicht verdient! verſetzte der Vater. Hab doch ſei- ne Mutter ins Grab gebracht, durch Untreu! — Aus dem Haus ſoll ſie mir, der Hund! Jch kann keine Hure ſehn! Jch bin ein Ehebrecher! — Lieber Karl! Biſt du bey der Mutter? Ach, ver- klag mich nicht! Verklag mich nicht! — Nun ſtuͤrzte er ſich wild uͤber ſeinen todten Sohn her, und kuͤſte ihn, daß er ihm die Lippen aufbiß. — Der Bube war doch fromm? Nicht? — Nun, ſo mag er fuͤr mich bitten! — Aber, ach, nun hab ich keinen Sohn mehr! habe keine Freunde mehr im Alter! Ach, nun moͤcht ich ſterben, weil er todt iſt! — Du lieber, todter Sohn! Eine Hure hat dir deines Vaters Herz geſtohlen! Und du biſt geſtorben; konnteſts laͤnger nicht mehr an- ſehn! Sags deiner Mutter nicht, Karl! Um Got-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 646. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/226>, abgerufen am 25.11.2024.