Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.hatte seinen Schreibepult am Fenster stehen, und merk- te jede Bewegung, die auf Marianens Zimmer vorgieng; sie stund auch sehr oft am Fenster, und setzte sich, wenn sie allein zu Hause war, so, daß er sie, und sie ihn sehen konnte. Er sah sie stricken, nähen, Stickereyen machen, und alle häusliche Ge- schäfte verrichten. Oft standen ihm Freudenthrä- nen in den Augen, wenn er das liebe Mädchen, so mit sich vergnügt, der Welt unbekannt, sich in der Stille, in jeder Pflicht, in jeder Tugend üben sah. Mit Thränen blickte er zum Himmel. Gott! dachte er, welch ein Glück ist dem bereitet, dem du eine solche Gattin gibst, die, mit jeder Anmuth ge- ziert, noch mehr für die Schönheit ihrer Seele sorgt, und sich täglich innerlich vollkommener zu machen sucht! -- Statt Eroberungen zu machen, und von hunderten begafft, und angestaunt, und bewun- dert zu werden, statt ihre Eitelkeit zu nähren, sitzt das fromme Mädchen da, von ihrem Engel, und von dem nur gesehen, der sie so heiß und heilig liebt, und bildet sich zu einer treuen Gattin, zu einer weisen Hausfrau, und zu einer frommen Mutter. -- Gott! wenn ich es werth bin, so erbarm dich mein, und schenk mir diesen Engel, daß ich in ihrer Gegenwart täglich besser, täglich heiliger, dir täg- hatte ſeinen Schreibepult am Fenſter ſtehen, und merk- te jede Bewegung, die auf Marianens Zimmer vorgieng; ſie ſtund auch ſehr oft am Fenſter, und ſetzte ſich, wenn ſie allein zu Hauſe war, ſo, daß er ſie, und ſie ihn ſehen konnte. Er ſah ſie ſtricken, naͤhen, Stickereyen machen, und alle haͤusliche Ge- ſchaͤfte verrichten. Oft ſtanden ihm Freudenthraͤ- nen in den Augen, wenn er das liebe Maͤdchen, ſo mit ſich vergnuͤgt, der Welt unbekannt, ſich in der Stille, in jeder Pflicht, in jeder Tugend uͤben ſah. Mit Thraͤnen blickte er zum Himmel. Gott! dachte er, welch ein Gluͤck iſt dem bereitet, dem du eine ſolche Gattin gibſt, die, mit jeder Anmuth ge- ziert, noch mehr fuͤr die Schoͤnheit ihrer Seele ſorgt, und ſich taͤglich innerlich vollkommener zu machen ſucht! — Statt Eroberungen zu machen, und von hunderten begafft, und angeſtaunt, und bewun- dert zu werden, ſtatt ihre Eitelkeit zu naͤhren, ſitzt das fromme Maͤdchen da, von ihrem Engel, und von dem nur geſehen, der ſie ſo heiß und heilig liebt, und bildet ſich zu einer treuen Gattin, zu einer weiſen Hausfrau, und zu einer frommen Mutter. — Gott! wenn ich es werth bin, ſo erbarm dich mein, und ſchenk mir dieſen Engel, daß ich in ihrer Gegenwart taͤglich beſſer, taͤglich heiliger, dir taͤg- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0266" n="686"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> hatte ſeinen Schreibepult am Fenſter ſtehen, und merk-<lb/> te jede Bewegung, die auf Marianens Zimmer<lb/> vorgieng; ſie ſtund auch ſehr oft am Fenſter, und<lb/> ſetzte ſich, wenn ſie allein zu Hauſe war, ſo, daß er<lb/> ſie, und ſie ihn ſehen konnte. Er ſah ſie ſtricken,<lb/> naͤhen, Stickereyen machen, und alle haͤusliche Ge-<lb/> ſchaͤfte verrichten. Oft ſtanden ihm Freudenthraͤ-<lb/> nen in den Augen, wenn er das liebe Maͤdchen, ſo<lb/> mit ſich vergnuͤgt, der Welt unbekannt, ſich in der<lb/> Stille, in jeder Pflicht, in jeder Tugend uͤben ſah.<lb/> Mit Thraͤnen blickte er zum Himmel. Gott!<lb/> dachte er, welch ein Gluͤck iſt dem bereitet, dem du<lb/> eine ſolche Gattin gibſt, die, mit jeder Anmuth ge-<lb/> ziert, noch mehr fuͤr die Schoͤnheit ihrer Seele ſorgt,<lb/> und ſich taͤglich innerlich vollkommener zu machen<lb/> ſucht! — Statt Eroberungen zu machen, und<lb/> von hunderten begafft, und angeſtaunt, und bewun-<lb/> dert zu werden, ſtatt ihre Eitelkeit zu naͤhren, ſitzt<lb/> das fromme Maͤdchen da, von ihrem Engel, und von<lb/> dem nur geſehen, der ſie ſo heiß und heilig liebt,<lb/> und bildet ſich zu einer treuen Gattin, zu einer<lb/> weiſen Hausfrau, und zu einer frommen Mutter.<lb/> — Gott! wenn ich es werth bin, ſo erbarm dich<lb/> mein, und ſchenk mir dieſen Engel, daß ich in ihrer<lb/> Gegenwart taͤglich beſſer, taͤglich heiliger, dir taͤg-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [686/0266]
hatte ſeinen Schreibepult am Fenſter ſtehen, und merk-
te jede Bewegung, die auf Marianens Zimmer
vorgieng; ſie ſtund auch ſehr oft am Fenſter, und
ſetzte ſich, wenn ſie allein zu Hauſe war, ſo, daß er
ſie, und ſie ihn ſehen konnte. Er ſah ſie ſtricken,
naͤhen, Stickereyen machen, und alle haͤusliche Ge-
ſchaͤfte verrichten. Oft ſtanden ihm Freudenthraͤ-
nen in den Augen, wenn er das liebe Maͤdchen, ſo
mit ſich vergnuͤgt, der Welt unbekannt, ſich in der
Stille, in jeder Pflicht, in jeder Tugend uͤben ſah.
Mit Thraͤnen blickte er zum Himmel. Gott!
dachte er, welch ein Gluͤck iſt dem bereitet, dem du
eine ſolche Gattin gibſt, die, mit jeder Anmuth ge-
ziert, noch mehr fuͤr die Schoͤnheit ihrer Seele ſorgt,
und ſich taͤglich innerlich vollkommener zu machen
ſucht! — Statt Eroberungen zu machen, und
von hunderten begafft, und angeſtaunt, und bewun-
dert zu werden, ſtatt ihre Eitelkeit zu naͤhren, ſitzt
das fromme Maͤdchen da, von ihrem Engel, und von
dem nur geſehen, der ſie ſo heiß und heilig liebt,
und bildet ſich zu einer treuen Gattin, zu einer
weiſen Hausfrau, und zu einer frommen Mutter.
— Gott! wenn ich es werth bin, ſo erbarm dich
mein, und ſchenk mir dieſen Engel, daß ich in ihrer
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