Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.lich angenehmer und meinem Nebenmenschen nütz- licher werde! Gott, du kannst mich nicht verdam- men, wenn ich in der Welt bleibe; diese Welt ist ja dein Tempel, und ich will dir dienen drinn mit diesem Engel. -- So ward die Empfindung über ihr Anschauen oft bey ihm Gebeth. Einmal sah er sie spinnen. Dieser Anblick rührte ihn unge- mein. Er erinnerte sich aus seinem Homer, den er mit P. Philipp gelesen hatte, an die Töchter der Könige, wie sie spannen und Gewebe webten, und sich nicht der gemeinsten Weberarbeit schämten; er erinnerte sich der Töchter der Patriarchen, die sich auch zur ländlichen Arbeit nicht zu vornehm däuch- ten. Ein andermal sah er sie im Kleist lesen, und gerührt zum Himmel blicken. Wie beneidenswür- dig war ihm da das Loos des Dichters, der das fromme Herz eines Mädchens zur Bewunderung und zum Dank hinreist; ihre Seele zu zärtlichen Gesinnungen erweicht, Thränen in das schönste Au- ge lockt, und nach seinem Tode noch für seine from- men Lieder gesegnet wird. -- Des Abends hörte er sie oft noch am Klaviere singen, ward bald zu hoher Andacht mit ihr aufgehoben, und betete mit einer Jnnbrunst, die er sonst nie erreicht hatte; bald ward er zu Seufzern und zu Thränen herabge- lich angenehmer und meinem Nebenmenſchen nuͤtz- licher werde! Gott, du kannſt mich nicht verdam- men, wenn ich in der Welt bleibe; dieſe Welt iſt ja dein Tempel, und ich will dir dienen drinn mit dieſem Engel. — So ward die Empfindung uͤber ihr Anſchauen oft bey ihm Gebeth. Einmal ſah er ſie ſpinnen. Dieſer Anblick ruͤhrte ihn unge- mein. Er erinnerte ſich aus ſeinem Homer, den er mit P. Philipp geleſen hatte, an die Toͤchter der Koͤnige, wie ſie ſpannen und Gewebe webten, und ſich nicht der gemeinſten Weberarbeit ſchaͤmten; er erinnerte ſich der Toͤchter der Patriarchen, die ſich auch zur laͤndlichen Arbeit nicht zu vornehm daͤuch- ten. Ein andermal ſah er ſie im Kleiſt leſen, und geruͤhrt zum Himmel blicken. Wie beneidenswuͤr- dig war ihm da das Loos des Dichters, der das fromme Herz eines Maͤdchens zur Bewunderung und zum Dank hinreiſt; ihre Seele zu zaͤrtlichen Geſinnungen erweicht, Thraͤnen in das ſchoͤnſte Au- ge lockt, und nach ſeinem Tode noch fuͤr ſeine from- men Lieder geſegnet wird. — Des Abends hoͤrte er ſie oft noch am Klaviere ſingen, ward bald zu hoher Andacht mit ihr aufgehoben, und betete mit einer Jnnbrunſt, die er ſonſt nie erreicht hatte; bald ward er zu Seufzern und zu Thraͤnen herabge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0267" n="687"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> lich angenehmer und meinem Nebenmenſchen nuͤtz-<lb/> licher werde! Gott, du kannſt mich nicht verdam-<lb/> men, wenn ich in der Welt bleibe; dieſe Welt iſt<lb/> ja dein Tempel, und ich will dir dienen drinn mit<lb/> dieſem Engel. — So ward die Empfindung uͤber<lb/> ihr Anſchauen oft bey ihm Gebeth. Einmal ſah<lb/> er ſie ſpinnen. Dieſer Anblick ruͤhrte ihn unge-<lb/> mein. Er erinnerte ſich aus ſeinem <hi rendition="#fr">Homer,</hi> den<lb/> er mit P. <hi rendition="#fr">Philipp</hi> geleſen hatte, an die Toͤchter der<lb/> Koͤnige, wie ſie ſpannen und Gewebe webten, und<lb/> ſich nicht der gemeinſten Weberarbeit ſchaͤmten; er<lb/> erinnerte ſich der Toͤchter der Patriarchen, die ſich<lb/> auch zur laͤndlichen Arbeit nicht zu vornehm daͤuch-<lb/> ten. Ein andermal ſah er ſie im <hi rendition="#fr">Kleiſt</hi> leſen, und<lb/> geruͤhrt zum Himmel blicken. Wie beneidenswuͤr-<lb/> dig war ihm da das Loos des Dichters, der das<lb/> fromme Herz eines Maͤdchens zur Bewunderung<lb/> und zum Dank hinreiſt; ihre Seele zu zaͤrtlichen<lb/> Geſinnungen erweicht, Thraͤnen in das ſchoͤnſte Au-<lb/> ge lockt, und nach ſeinem Tode noch fuͤr ſeine from-<lb/> men Lieder geſegnet wird. — Des Abends hoͤrte<lb/> er ſie oft noch am Klaviere ſingen, ward bald zu<lb/> hoher Andacht mit ihr aufgehoben, und betete mit<lb/> einer Jnnbrunſt, die er ſonſt nie erreicht hatte; bald<lb/> ward er zu Seufzern und zu Thraͤnen herabge-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [687/0267]
lich angenehmer und meinem Nebenmenſchen nuͤtz-
licher werde! Gott, du kannſt mich nicht verdam-
men, wenn ich in der Welt bleibe; dieſe Welt iſt
ja dein Tempel, und ich will dir dienen drinn mit
dieſem Engel. — So ward die Empfindung uͤber
ihr Anſchauen oft bey ihm Gebeth. Einmal ſah
er ſie ſpinnen. Dieſer Anblick ruͤhrte ihn unge-
mein. Er erinnerte ſich aus ſeinem Homer, den
er mit P. Philipp geleſen hatte, an die Toͤchter der
Koͤnige, wie ſie ſpannen und Gewebe webten, und
ſich nicht der gemeinſten Weberarbeit ſchaͤmten; er
erinnerte ſich der Toͤchter der Patriarchen, die ſich
auch zur laͤndlichen Arbeit nicht zu vornehm daͤuch-
ten. Ein andermal ſah er ſie im Kleiſt leſen, und
geruͤhrt zum Himmel blicken. Wie beneidenswuͤr-
dig war ihm da das Loos des Dichters, der das
fromme Herz eines Maͤdchens zur Bewunderung
und zum Dank hinreiſt; ihre Seele zu zaͤrtlichen
Geſinnungen erweicht, Thraͤnen in das ſchoͤnſte Au-
ge lockt, und nach ſeinem Tode noch fuͤr ſeine from-
men Lieder geſegnet wird. — Des Abends hoͤrte
er ſie oft noch am Klaviere ſingen, ward bald zu
hoher Andacht mit ihr aufgehoben, und betete mit
einer Jnnbrunſt, die er ſonſt nie erreicht hatte; bald
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Zitationshilfe: | Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 687. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/267>, abgerufen am 16.07.2024. |