ihm in den Arm. Jhre Küsse waren feuriger, wie sonst; ihr Mund verweilte länger auf dem seini- gen, und sog ganz seinen Athem ein. Er setzte sie auf seinen Schooß; drückte sie fest an sein Herz, und legte sein Gesicht an das ihrige. Keines konnte vor Empfindungen sprechen. Er küßte ihre Stirne, dann ihr Auge, und da fühlte er, daß es naß war, und küßte eine heilige Thräne weg. So eine süsse, überirdische Empfindung hatte er noch nie gehabt. Er sah ihr mit der grösten, weh- müthigsten Zärtlichkeit ins Auge; sie konnts nicht aushalten, und verbarg ihr Gesicht an seinem Bu- sen. -- Liebster, liebster Siegwart! Liebstes, bestes Mädchen! war alles, was sie sagen konn- ten. -- Endlich kam Joseph, der indeß auf dem Gartenhaus gelesen hatte, hurtig auf die Laube zugesprungen, und rief, der Bruder und die Schwä- gerin! Siegwart und Mariane sprangen auf. Joseph wollte wieder zurück. Bleib da! rief Ma- riane, und nun giengen alle drey nach der Gar- tenthüre zu, wo das liebe Paar eben herein trat.
Das ist der Herr, sagte Mariane ganz ent- schlossen, der gestern unserm Joseph das Leben gerettet hat. Ey, sagte die Schwägerin, sind das der junge Herr Siegwart? Ja, mich deucht, ich
ihm in den Arm. Jhre Kuͤſſe waren feuriger, wie ſonſt; ihr Mund verweilte laͤnger auf dem ſeini- gen, und ſog ganz ſeinen Athem ein. Er ſetzte ſie auf ſeinen Schooß; druͤckte ſie feſt an ſein Herz, und legte ſein Geſicht an das ihrige. Keines konnte vor Empfindungen ſprechen. Er kuͤßte ihre Stirne, dann ihr Auge, und da fuͤhlte er, daß es naß war, und kuͤßte eine heilige Thraͤne weg. So eine ſuͤſſe, uͤberirdiſche Empfindung hatte er noch nie gehabt. Er ſah ihr mit der groͤſten, weh- muͤthigſten Zaͤrtlichkeit ins Auge; ſie konnts nicht aushalten, und verbarg ihr Geſicht an ſeinem Bu- ſen. — Liebſter, liebſter Siegwart! Liebſtes, beſtes Maͤdchen! war alles, was ſie ſagen konn- ten. — Endlich kam Joſeph, der indeß auf dem Gartenhaus geleſen hatte, hurtig auf die Laube zugeſprungen, und rief, der Bruder und die Schwaͤ- gerin! Siegwart und Mariane ſprangen auf. Joſeph wollte wieder zuruͤck. Bleib da! rief Ma- riane, und nun giengen alle drey nach der Gar- tenthuͤre zu, wo das liebe Paar eben herein trat.
Das iſt der Herr, ſagte Mariane ganz ent- ſchloſſen, der geſtern unſerm Joſeph das Leben gerettet hat. Ey, ſagte die Schwaͤgerin, ſind das der junge Herr Siegwart? Ja, mich deucht, ich
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ihm in den Arm. Jhre Kuͤſſe waren feuriger, wie
ſonſt; ihr Mund verweilte laͤnger auf dem ſeini-
gen, und ſog ganz ſeinen Athem ein. Er ſetzte
ſie auf ſeinen Schooß; druͤckte ſie feſt an ſein Herz,
und legte ſein Geſicht an das ihrige. Keines
konnte vor Empfindungen ſprechen. Er kuͤßte ihre
Stirne, dann ihr Auge, und da fuͤhlte er, daß
es naß war, und kuͤßte eine heilige Thraͤne weg.
So eine ſuͤſſe, uͤberirdiſche Empfindung hatte er
noch nie gehabt. Er ſah ihr mit der groͤſten, weh-
muͤthigſten Zaͤrtlichkeit ins Auge; ſie konnts nicht
aushalten, und verbarg ihr Geſicht an ſeinem Bu-
ſen. — Liebſter, liebſter Siegwart! Liebſtes,
beſtes Maͤdchen! war alles, was ſie ſagen konn-
ten. — Endlich kam Joſeph, der indeß auf dem
Gartenhaus geleſen hatte, hurtig auf die Laube
zugeſprungen, und rief, der Bruder und die Schwaͤ-
gerin! Siegwart und Mariane ſprangen auf.
Joſeph wollte wieder zuruͤck. Bleib da! rief Ma-
riane, und nun giengen alle drey nach der Gar-
tenthuͤre zu, wo das liebe Paar eben herein trat.
Das iſt der Herr, ſagte Mariane ganz ent-
ſchloſſen, der geſtern unſerm Joſeph das Leben
gerettet hat. Ey, ſagte die Schwaͤgerin, ſind das
der junge Herr Siegwart? Ja, mich deucht, ich
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 824. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/404>, abgerufen am 22.11.2024.
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