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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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noch mehr erhitzten; aber, lieber Gott, wenn das
Herz nichts zu thun hat, dann nimmt man seine
Zuflucht zu der Einbildungskraft. Erst vor kur-
zer Zeit lernt ich, durch meine Base hier, einige
deutsche Dichter kennen, besonders den Klopstock; und
da muß ich gestehen, hier ist freylich tausendmal mehr
Nahrung für den Geist, mehr Wahrheit, mehr
tiefgedachtes, und mehr tiesempfundenes; und jetzt
les ich fast beständig deutsch. Aber noch vor ein
paar Jahren sah man ja hier zu Lande kaum ein
deutsches Buch, das man ohne Ekel lesen konnte.
Genug, meine Lebenszeit strich hin, ohne mir oder
der Welt Vergnügen zu gewähren. Mein Mann
sah meinen stillen Gram, ohne mit zu fühlen, oder
Antheil dran zu nehmen, und dann schmerzt das
Elend doppelt. Vor zwey Jahren starb er; nun bin
ich schon so an die Einsamkeit gewöhnt, daß ich
mich wenig mehr um die Welt bekümmre. Kin-
der hab ich nie gehabt; die hätten mir allein mein
Elend noch erleichtern können.

Siegwart seußte und ward ganz wehmüthig bey
ihrer Erzählung. Aber, sagte sie, Karoline, (so
hies Marianens Freundin,) wir müssen unser
Pärchen auch allein lassen. Wollen Sie vielleicht
spatzieren gehen, Mariane? oder sollen wirs thun?



noch mehr erhitzten; aber, lieber Gott, wenn das
Herz nichts zu thun hat, dann nimmt man ſeine
Zuflucht zu der Einbildungskraft. Erſt vor kur-
zer Zeit lernt ich, durch meine Baſe hier, einige
deutſche Dichter kennen, beſonders den Klopſtock; und
da muß ich geſtehen, hier iſt freylich tauſendmal mehr
Nahrung fuͤr den Geiſt, mehr Wahrheit, mehr
tiefgedachtes, und mehr tieſempfundenes; und jetzt
les ich faſt beſtaͤndig deutſch. Aber noch vor ein
paar Jahren ſah man ja hier zu Lande kaum ein
deutſches Buch, das man ohne Ekel leſen konnte.
Genug, meine Lebenszeit ſtrich hin, ohne mir oder
der Welt Vergnuͤgen zu gewaͤhren. Mein Mann
ſah meinen ſtillen Gram, ohne mit zu fuͤhlen, oder
Antheil dran zu nehmen, und dann ſchmerzt das
Elend doppelt. Vor zwey Jahren ſtarb er; nun bin
ich ſchon ſo an die Einſamkeit gewoͤhnt, daß ich
mich wenig mehr um die Welt bekuͤmmre. Kin-
der hab ich nie gehabt; die haͤtten mir allein mein
Elend noch erleichtern koͤnnen.

Siegwart ſeuſzte und ward ganz wehmuͤthig bey
ihrer Erzaͤhlung. Aber, ſagte ſie, Karoline, (ſo
hies Marianens Freundin,) wir muͤſſen unſer
Paͤrchen auch allein laſſen. Wollen Sie vielleicht
ſpatzieren gehen, Mariane? oder ſollen wirs thun?

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[838/0418] noch mehr erhitzten; aber, lieber Gott, wenn das Herz nichts zu thun hat, dann nimmt man ſeine Zuflucht zu der Einbildungskraft. Erſt vor kur- zer Zeit lernt ich, durch meine Baſe hier, einige deutſche Dichter kennen, beſonders den Klopſtock; und da muß ich geſtehen, hier iſt freylich tauſendmal mehr Nahrung fuͤr den Geiſt, mehr Wahrheit, mehr tiefgedachtes, und mehr tieſempfundenes; und jetzt les ich faſt beſtaͤndig deutſch. Aber noch vor ein paar Jahren ſah man ja hier zu Lande kaum ein deutſches Buch, das man ohne Ekel leſen konnte. Genug, meine Lebenszeit ſtrich hin, ohne mir oder der Welt Vergnuͤgen zu gewaͤhren. Mein Mann ſah meinen ſtillen Gram, ohne mit zu fuͤhlen, oder Antheil dran zu nehmen, und dann ſchmerzt das Elend doppelt. Vor zwey Jahren ſtarb er; nun bin ich ſchon ſo an die Einſamkeit gewoͤhnt, daß ich mich wenig mehr um die Welt bekuͤmmre. Kin- der hab ich nie gehabt; die haͤtten mir allein mein Elend noch erleichtern koͤnnen. Siegwart ſeuſzte und ward ganz wehmuͤthig bey ihrer Erzaͤhlung. Aber, ſagte ſie, Karoline, (ſo hies Marianens Freundin,) wir muͤſſen unſer Paͤrchen auch allein laſſen. Wollen Sie vielleicht ſpatzieren gehen, Mariane? oder ſollen wirs thun?

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 838. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/418>, abgerufen am 22.11.2024.