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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Mariane stand auf, und lächelte. Die Tante
gieng an ihren Flügel, und Siegwart mit Maria-
nen durch den Baumgarten nach dem Wäldchen.
Hören Sie, sagte Mariane, was die arme Frau
für ein trauriges Adagio spielt! Jch bedaure sie
recht herzlich, denn sie hat unendlich viel ausge-
standen. Hysterische Zusälle, und ihr kummervol-
les Leben, setzten ein paarmal ihrem Verstande
hart zu, und da nahm die Verleumdung Anlaß,
ihr allerley Böses nachzureden; aber, weis Gott!
sie ist die beste Frau auf Gottes Erdboden, in der
kein böser Blutstropfen rinnt! Es geht immer so,
sagte Siegwart, je besser und vollkommener man
ist, desto mehr hat man Neider, und wird mis-
verstanden. Jch wollte auch in ihre Seele schwö-
ren, daß nichts böses an ihr ist. Sie hat mich
ganz bezaubert.

Sie setzten sich auf eine Rasenbank, die unter
einem dickbelaubten Apfelbaum sehr glücklich ange-
bracht war. Um sie herum düftete in der, nach
und nach herannahenden Abendkühle das Geis-
blatt. Auf einem Baum vor ihnen hatte ein
Eichhörnchen sein Nest, wo es bald heraus, bald
hinein schlüpfte, und oft, als ob es neugierig wär,
herabsah. Sie belustigten sich lange an seinen pos-



Mariane ſtand auf, und laͤchelte. Die Tante
gieng an ihren Fluͤgel, und Siegwart mit Maria-
nen durch den Baumgarten nach dem Waͤldchen.
Hoͤren Sie, ſagte Mariane, was die arme Frau
fuͤr ein trauriges Adagio ſpielt! Jch bedaure ſie
recht herzlich, denn ſie hat unendlich viel ausge-
ſtanden. Hyſteriſche Zuſaͤlle, und ihr kummervol-
les Leben, ſetzten ein paarmal ihrem Verſtande
hart zu, und da nahm die Verleumdung Anlaß,
ihr allerley Boͤſes nachzureden; aber, weis Gott!
ſie iſt die beſte Frau auf Gottes Erdboden, in der
kein boͤſer Blutstropfen rinnt! Es geht immer ſo,
ſagte Siegwart, je beſſer und vollkommener man
iſt, deſto mehr hat man Neider, und wird mis-
verſtanden. Jch wollte auch in ihre Seele ſchwoͤ-
ren, daß nichts boͤſes an ihr iſt. Sie hat mich
ganz bezaubert.

Sie ſetzten ſich auf eine Raſenbank, die unter
einem dickbelaubten Apfelbaum ſehr gluͤcklich ange-
bracht war. Um ſie herum duͤftete in der, nach
und nach herannahenden Abendkuͤhle das Geis-
blatt. Auf einem Baum vor ihnen hatte ein
Eichhoͤrnchen ſein Neſt, wo es bald heraus, bald
hinein ſchluͤpfte, und oft, als ob es neugierig waͤr,
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[839/0419] Mariane ſtand auf, und laͤchelte. Die Tante gieng an ihren Fluͤgel, und Siegwart mit Maria- nen durch den Baumgarten nach dem Waͤldchen. Hoͤren Sie, ſagte Mariane, was die arme Frau fuͤr ein trauriges Adagio ſpielt! Jch bedaure ſie recht herzlich, denn ſie hat unendlich viel ausge- ſtanden. Hyſteriſche Zuſaͤlle, und ihr kummervol- les Leben, ſetzten ein paarmal ihrem Verſtande hart zu, und da nahm die Verleumdung Anlaß, ihr allerley Boͤſes nachzureden; aber, weis Gott! ſie iſt die beſte Frau auf Gottes Erdboden, in der kein boͤſer Blutstropfen rinnt! Es geht immer ſo, ſagte Siegwart, je beſſer und vollkommener man iſt, deſto mehr hat man Neider, und wird mis- verſtanden. Jch wollte auch in ihre Seele ſchwoͤ- ren, daß nichts boͤſes an ihr iſt. Sie hat mich ganz bezaubert. Sie ſetzten ſich auf eine Raſenbank, die unter einem dickbelaubten Apfelbaum ſehr gluͤcklich ange- bracht war. Um ſie herum duͤftete in der, nach und nach herannahenden Abendkuͤhle das Geis- blatt. Auf einem Baum vor ihnen hatte ein Eichhoͤrnchen ſein Neſt, wo es bald heraus, bald hinein ſchluͤpfte, und oft, als ob es neugierig waͤr, herabſah. Sie beluſtigten ſich lange an ſeinen poſ-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 839. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/419>, abgerufen am 22.11.2024.