was hab ich verlohren! den Besten, Gütigsten, Zärtlichsten. -- O Mariane, ich kann nicht wei- ter schreiben. Sey nun Du mir alles! Bleib mir treu! So bald als möglich komm ich, höch- stens in acht Tagen.
Leb wohl, Engel Gottes! Jch bin ewig Dein
Xaver Siegwart.
Als er den Brief gesiegelt, und selber, mit der Umschrift an ihren Bruder, dem Postverwalter gebracht hatte, gieng er wieder in seinen Garten, und lief hastig auf und ab, und dann schnell die Treppen hinauf, in das Zimmer, wo sein Vater lag. Seine ganze Natur schauerte zurück, als er ihn so blaß da liegen sah. Erst nahte er sich dem Leichnam langsam, dann stürzte er schnell auf ihn hin, küßte die kalte Lippe, und fuhr ängstlich wie- der zurück, und verließ schnell das Zimmer. -- Nirgends hatte er eine bleibende Stätte; zuweilen ergossen sich seine Thränen haufenweis, und dann war ihm wieder eine Zeitlang wohl. Bey Tische sprachen alle wenig; eins sah das andre traurig an, und dann stieg wieder ein tiefer Seußer aus der Brust. Auch Salome war tief bekümmert, denn, da ihre Verwandte in München todt war, sah sie für sich die wenigste Versorgung. Sie be-
was hab ich verlohren! den Beſten, Guͤtigſten, Zaͤrtlichſten. — O Mariane, ich kann nicht wei- ter ſchreiben. Sey nun Du mir alles! Bleib mir treu! So bald als moͤglich komm ich, hoͤch- ſtens in acht Tagen.
Leb wohl, Engel Gottes! Jch bin ewig Dein
Xaver Siegwart.
Als er den Brief geſiegelt, und ſelber, mit der Umſchrift an ihren Bruder, dem Poſtverwalter gebracht hatte, gieng er wieder in ſeinen Garten, und lief haſtig auf und ab, und dann ſchnell die Treppen hinauf, in das Zimmer, wo ſein Vater lag. Seine ganze Natur ſchauerte zuruͤck, als er ihn ſo blaß da liegen ſah. Erſt nahte er ſich dem Leichnam langſam, dann ſtuͤrzte er ſchnell auf ihn hin, kuͤßte die kalte Lippe, und fuhr aͤngſtlich wie- der zuruͤck, und verließ ſchnell das Zimmer. — Nirgends hatte er eine bleibende Staͤtte; zuweilen ergoſſen ſich ſeine Thraͤnen haufenweis, und dann war ihm wieder eine Zeitlang wohl. Bey Tiſche ſprachen alle wenig; eins ſah das andre traurig an, und dann ſtieg wieder ein tiefer Seuſzer aus der Bruſt. Auch Salome war tief bekuͤmmert, denn, da ihre Verwandte in Muͤnchen todt war, ſah ſie fuͤr ſich die wenigſte Verſorgung. Sie be-
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was hab ich verlohren! den Beſten, Guͤtigſten,
Zaͤrtlichſten. — O Mariane, ich kann nicht wei-
ter ſchreiben. Sey nun Du mir alles! Bleib mir
treu! So bald als moͤglich komm ich, hoͤch-
ſtens in acht Tagen.
Leb wohl, Engel Gottes!
Jch bin ewig Dein
Xaver Siegwart.
Als er den Brief geſiegelt, und ſelber, mit der
Umſchrift an ihren Bruder, dem Poſtverwalter
gebracht hatte, gieng er wieder in ſeinen Garten,
und lief haſtig auf und ab, und dann ſchnell die
Treppen hinauf, in das Zimmer, wo ſein Vater
lag. Seine ganze Natur ſchauerte zuruͤck, als er
ihn ſo blaß da liegen ſah. Erſt nahte er ſich dem
Leichnam langſam, dann ſtuͤrzte er ſchnell auf ihn
hin, kuͤßte die kalte Lippe, und fuhr aͤngſtlich wie-
der zuruͤck, und verließ ſchnell das Zimmer. —
Nirgends hatte er eine bleibende Staͤtte; zuweilen
ergoſſen ſich ſeine Thraͤnen haufenweis, und dann
war ihm wieder eine Zeitlang wohl. Bey Tiſche
ſprachen alle wenig; eins ſah das andre traurig
an, und dann ſtieg wieder ein tiefer Seuſzer aus
der Bruſt. Auch Salome war tief bekuͤmmert,
denn, da ihre Verwandte in Muͤnchen todt war,
ſah ſie fuͤr ſich die wenigſte Verſorgung. Sie be-
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 877. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/457>, abgerufen am 24.11.2024.
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