Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.gieng sie ins Frauenkloster in die Frühmesse, und nährte da ihre Phantasie, bey der feyerlichen Mu- sik, die die Nonnen machten, mit Bildern von über- irrdischer Liebe und himmlischer Seelenfreundschaft. Seit sie gewiß wußte; daß Siegwart ins Kloster gehen würde, war es auch bey ihr festgesetzt, sich einkleiden zu lassen. Der Gedanke hatte tausend Reiz für sie, sich eben so wie der, den ihre Seele liebte, ganz dem Himmel zu weihen; eben so, wie er, in der Stille, und von der Welt abgesondert, sich mit dem Heiland zu vermählen; und einst als eine keusche Braut dem, den sie hier umsonst liebte, als ihrem Bräutigam entgegen zu gehen. Sie er- hitzte ihre Einbildungskraft noch mehr durch das Lesen einiger mystischen und andächtigschwärmeri- schen Bücher. Jhr Herz ward mit einer anschei- nenden Verachtung der Welt erfüllt, die an sich mehr Ueberdruß zu leben war, und allein von be- trogner Hofnung herrührte. Wenn sie Siegwart Einmal wieder sah, so war ihre Seele wieder ganz aus ihrer Fassung gebracht; die Welt zog sie wieder an sich, und sie hatte Tage lang zu thun, bis die arbei- tende Phantasie sie aufs neu in den täuschenden Schlummer wiegte. Oft glaubte sie, ganz ruhig und ganz glücklich zu seyn; aber der innre Gram ver- gieng ſie ins Frauenkloſter in die Fruͤhmeſſe, und naͤhrte da ihre Phantaſie, bey der feyerlichen Mu- ſik, die die Nonnen machten, mit Bildern von uͤber- irrdiſcher Liebe und himmliſcher Seelenfreundſchaft. Seit ſie gewiß wußte; daß Siegwart ins Kloſter gehen wuͤrde, war es auch bey ihr feſtgeſetzt, ſich einkleiden zu laſſen. Der Gedanke hatte tauſend Reiz fuͤr ſie, ſich eben ſo wie der, den ihre Seele liebte, ganz dem Himmel zu weihen; eben ſo, wie er, in der Stille, und von der Welt abgeſondert, ſich mit dem Heiland zu vermaͤhlen; und einſt als eine keuſche Braut dem, den ſie hier umſonſt liebte, als ihrem Braͤutigam entgegen zu gehen. Sie er- hitzte ihre Einbildungskraft noch mehr durch das Leſen einiger myſtiſchen und andaͤchtigſchwaͤrmeri- ſchen Buͤcher. Jhr Herz ward mit einer anſchei- nenden Verachtung der Welt erfuͤllt, die an ſich mehr Ueberdruß zu leben war, und allein von be- trogner Hofnung herruͤhrte. Wenn ſie Siegwart Einmal wieder ſah, ſo war ihre Seele wieder ganz aus ihrer Faſſung gebracht; die Welt zog ſie wieder an ſich, und ſie hatte Tage lang zu thun, bis die arbei- tende Phantaſie ſie aufs neu in den taͤuſchenden Schlummer wiegte. Oft glaubte ſie, ganz ruhig und ganz gluͤcklich zu ſeyn; aber der innre Gram ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0077" n="497"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> gieng ſie ins Frauenkloſter in die Fruͤhmeſſe, und<lb/> naͤhrte da ihre Phantaſie, bey der feyerlichen Mu-<lb/> ſik, die die Nonnen machten, mit Bildern von uͤber-<lb/> irrdiſcher Liebe und himmliſcher Seelenfreundſchaft.<lb/> Seit ſie gewiß wußte; daß Siegwart ins Kloſter<lb/> gehen wuͤrde, war es auch bey ihr feſtgeſetzt, ſich<lb/> einkleiden zu laſſen. Der Gedanke hatte tauſend<lb/> Reiz fuͤr ſie, ſich eben ſo wie der, den ihre Seele<lb/> liebte, ganz dem Himmel zu weihen; eben ſo, wie<lb/> er, in der Stille, und von der Welt abgeſondert,<lb/> ſich mit dem Heiland zu vermaͤhlen; und einſt als<lb/> eine keuſche Braut dem, den ſie hier umſonſt liebte,<lb/> als ihrem Braͤutigam entgegen zu gehen. Sie er-<lb/> hitzte ihre Einbildungskraft noch mehr durch das<lb/> Leſen einiger myſtiſchen und andaͤchtigſchwaͤrmeri-<lb/> ſchen Buͤcher. Jhr Herz ward mit einer anſchei-<lb/> nenden Verachtung der Welt erfuͤllt, die an ſich<lb/> mehr Ueberdruß zu leben war, und allein von be-<lb/> trogner Hofnung herruͤhrte. Wenn ſie Siegwart<lb/> Einmal wieder ſah, ſo war ihre Seele wieder ganz aus<lb/> ihrer Faſſung gebracht; die Welt zog ſie wieder an<lb/> ſich, und ſie hatte Tage lang zu thun, bis die arbei-<lb/> tende Phantaſie ſie aufs neu in den taͤuſchenden<lb/> Schlummer wiegte. Oft glaubte ſie, ganz ruhig und<lb/> ganz gluͤcklich zu ſeyn; aber der innre Gram ver-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [497/0077]
gieng ſie ins Frauenkloſter in die Fruͤhmeſſe, und
naͤhrte da ihre Phantaſie, bey der feyerlichen Mu-
ſik, die die Nonnen machten, mit Bildern von uͤber-
irrdiſcher Liebe und himmliſcher Seelenfreundſchaft.
Seit ſie gewiß wußte; daß Siegwart ins Kloſter
gehen wuͤrde, war es auch bey ihr feſtgeſetzt, ſich
einkleiden zu laſſen. Der Gedanke hatte tauſend
Reiz fuͤr ſie, ſich eben ſo wie der, den ihre Seele
liebte, ganz dem Himmel zu weihen; eben ſo, wie
er, in der Stille, und von der Welt abgeſondert,
ſich mit dem Heiland zu vermaͤhlen; und einſt als
eine keuſche Braut dem, den ſie hier umſonſt liebte,
als ihrem Braͤutigam entgegen zu gehen. Sie er-
hitzte ihre Einbildungskraft noch mehr durch das
Leſen einiger myſtiſchen und andaͤchtigſchwaͤrmeri-
ſchen Buͤcher. Jhr Herz ward mit einer anſchei-
nenden Verachtung der Welt erfuͤllt, die an ſich
mehr Ueberdruß zu leben war, und allein von be-
trogner Hofnung herruͤhrte. Wenn ſie Siegwart
Einmal wieder ſah, ſo war ihre Seele wieder ganz aus
ihrer Faſſung gebracht; die Welt zog ſie wieder an
ſich, und ſie hatte Tage lang zu thun, bis die arbei-
tende Phantaſie ſie aufs neu in den taͤuſchenden
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