nichtswürdigen Streitigkeiten und Zänkereyen an- gefüllt hat. Dieser trockne und mürrische Mann entleidete unserm Siegwart, der nur Leben und Wärme, besonders in der Religion suchte, den Auf- enthalt auf dem Kloster ziemlich. Er sehnte sich nach seinem lieben Kronhelm, der ihm viele, aber immer die kläglichsten und schwermüthigsten Brie- fe schrieb, und ihn aufs herzlichste bat, ja recht bald nach Jngolstadt zu kommen!
Therese schrieb ihm auch noch immer traurig, aber doch gelassen. Jhr Schmerz daurte zwar be- ständig fort, aber sie gewöhnte sich nach und nach daran, und klagte weniger. Ungefähr in der Mit- te des Sommers ließ sie ihren Bruder einmal drey Wochen lang auf Briefe warten. Er ward ver- drüßlich drüber, und konnte sich die Ursache ihres Schweigens nicht erklären. Als er an einem Sonnabend wieder einmal vergeblich gewartet hat- te, so schlug ihm P. Philipp auf den Nachmittag einen Spatziergang vor. Sie giengen zwischen den Kornfeldern hin, und ein Bettelbube bat sie wei- nend um ein Allmosen. Ach, liebe geistliche Herren, sagt' er, mir ist so gar übel g'fehlt! Vor drey Ta- gen ist mein Vater g'storben, und nun hab ich kei- nen Menschen auf der Welt mehr. Siegwart griff
nichtswuͤrdigen Streitigkeiten und Zaͤnkereyen an- gefuͤllt hat. Dieſer trockne und muͤrriſche Mann entleidete unſerm Siegwart, der nur Leben und Waͤrme, beſonders in der Religion ſuchte, den Auf- enthalt auf dem Kloſter ziemlich. Er ſehnte ſich nach ſeinem lieben Kronhelm, der ihm viele, aber immer die klaͤglichſten und ſchwermuͤthigſten Brie- fe ſchrieb, und ihn aufs herzlichſte bat, ja recht bald nach Jngolſtadt zu kommen!
Thereſe ſchrieb ihm auch noch immer traurig, aber doch gelaſſen. Jhr Schmerz daurte zwar be- ſtaͤndig fort, aber ſie gewoͤhnte ſich nach und nach daran, und klagte weniger. Ungefaͤhr in der Mit- te des Sommers ließ ſie ihren Bruder einmal drey Wochen lang auf Briefe warten. Er ward ver- druͤßlich druͤber, und konnte ſich die Urſache ihres Schweigens nicht erklaͤren. Als er an einem Sonnabend wieder einmal vergeblich gewartet hat- te, ſo ſchlug ihm P. Philipp auf den Nachmittag einen Spatziergang vor. Sie giengen zwiſchen den Kornfeldern hin, und ein Bettelbube bat ſie wei- nend um ein Allmoſen. Ach, liebe geiſtliche Herren, ſagt’ er, mir iſt ſo gar uͤbel g’fehlt! Vor drey Ta- gen iſt mein Vater g’ſtorben, und nun hab ich kei- nen Menſchen auf der Welt mehr. Siegwart griff
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nichtswuͤrdigen Streitigkeiten und Zaͤnkereyen an-
gefuͤllt hat. Dieſer trockne und muͤrriſche Mann
entleidete unſerm Siegwart, der nur Leben und
Waͤrme, beſonders in der Religion ſuchte, den Auf-
enthalt auf dem Kloſter ziemlich. Er ſehnte ſich
nach ſeinem lieben Kronhelm, der ihm viele, aber
immer die klaͤglichſten und ſchwermuͤthigſten Brie-
fe ſchrieb, und ihn aufs herzlichſte bat, ja recht
bald nach Jngolſtadt zu kommen!
Thereſe ſchrieb ihm auch noch immer traurig,
aber doch gelaſſen. Jhr Schmerz daurte zwar be-
ſtaͤndig fort, aber ſie gewoͤhnte ſich nach und nach
daran, und klagte weniger. Ungefaͤhr in der Mit-
te des Sommers ließ ſie ihren Bruder einmal drey
Wochen lang auf Briefe warten. Er ward ver-
druͤßlich druͤber, und konnte ſich die Urſache ihres
Schweigens nicht erklaͤren. Als er an einem
Sonnabend wieder einmal vergeblich gewartet hat-
te, ſo ſchlug ihm P. Philipp auf den Nachmittag
einen Spatziergang vor. Sie giengen zwiſchen den
Kornfeldern hin, und ein Bettelbube bat ſie wei-
nend um ein Allmoſen. Ach, liebe geiſtliche Herren,
ſagt’ er, mir iſt ſo gar uͤbel g’fehlt! Vor drey Ta-
gen iſt mein Vater g’ſtorben, und nun hab ich kei-
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/80>, abgerufen am 16.02.2025.
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