Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.

Bild:
<< vorherige Seite

Neunter Gesang.

Und nicht lieber zugleich mit mir die Versuchung erwarten,
Da ich der beste Zeuge von deiner bestätigten Treu bin.

So sprach Adam, besorgt in seiner ehlichen Liebe.
335Aber Eva, welche vermeynte, man traue zu wenig

Jhrer Tugend und Treu, versetzte mit lieblicher Stimme.
Jst das unser gepriesener Stand, im engsten Bezirke
Eingeschlossen zu seyn, von einem grimmigen Feinde
Voll von Wuth, oder List; ist jedes von uns für sich selber
340Nicht genugsam bewehrt, ihn, wo er auch immer uns findet,

Mit gleich mächtigem Muth zu begegnen: -- wie sind wir da glücklich?
Glücklich in einer beständigen Furcht vor Leid und vor Unglück?
Aber Unglück und Leid kann vor der Sünd' uns nicht treffen;
Denn die Versuchung des Feindes beschimpft uns allein durch sein Urtheil,
345Welches unsere Treu entehrt; sein schimpfliches Urtheil

Kann uns indeß nicht beflecken; es fällt vielmehr auf ihn selber
Voller Schande zurück. Was haben wir ihn denn zu fürchten?
Haben wir nicht gedoppelten Ruhm dadurch zu erwerben,
Wenn sein schändlicher Argwohn ihn trügt? Dann haben wir in uns
350Frieden, und Gunst vom Himmel, und von dem Ausgang Beweise.

Was ist Lieb' und Tugend und Treu, wofern sie nicht selber,
Ohne Hülfe von andern, sich zu erhalten vermöchten!
Bilde dir also nicht ein, daß diesen seeligen Zustand
Unser weisester Schöpfer so unvollkommen gelassen,
355Daß nicht jedes von uns, sowohl allein, als beysammen,
Sicher
II. Theil. L

Neunter Geſang.

Und nicht lieber zugleich mit mir die Verſuchung erwarten,
Da ich der beſte Zeuge von deiner beſtaͤtigten Treu bin.

So ſprach Adam, beſorgt in ſeiner ehlichen Liebe.
335Aber Eva, welche vermeynte, man traue zu wenig

Jhrer Tugend und Treu, verſetzte mit lieblicher Stimme.
Jſt das unſer geprieſener Stand, im engſten Bezirke
Eingeſchloſſen zu ſeyn, von einem grimmigen Feinde
Voll von Wuth, oder Liſt; iſt jedes von uns fuͤr ſich ſelber
340Nicht genugſam bewehrt, ihn, wo er auch immer uns findet,

Mit gleich maͤchtigem Muth zu begegnen: — wie ſind wir da gluͤcklich?
Gluͤcklich in einer beſtaͤndigen Furcht vor Leid und vor Ungluͤck?
Aber Ungluͤck und Leid kann vor der Suͤnd’ uns nicht treffen;
Denn die Verſuchung des Feindes beſchimpft uns allein durch ſein Urtheil,
345Welches unſere Treu entehrt; ſein ſchimpfliches Urtheil

Kann uns indeß nicht beflecken; es faͤllt vielmehr auf ihn ſelber
Voller Schande zuruͤck. Was haben wir ihn denn zu fuͤrchten?
Haben wir nicht gedoppelten Ruhm dadurch zu erwerben,
Wenn ſein ſchaͤndlicher Argwohn ihn truͤgt? Dann haben wir in uns
350Frieden, und Gunſt vom Himmel, und von dem Ausgang Beweiſe.

Was iſt Lieb’ und Tugend und Treu, wofern ſie nicht ſelber,
Ohne Huͤlfe von andern, ſich zu erhalten vermoͤchten!
Bilde dir alſo nicht ein, daß dieſen ſeeligen Zuſtand
Unſer weiſeſter Schoͤpfer ſo unvollkommen gelaſſen,
355Daß nicht jedes von uns, ſowohl allein, als beyſammen,
Sicher
II. Theil. L
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="9">
            <l>
              <pb facs="#f0101" n="81"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Neunter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw>
            </l><lb/>
            <l>Und nicht lieber zugleich mit mir die Ver&#x017F;uchung erwarten,</l><lb/>
            <l>Da ich der be&#x017F;te Zeuge von deiner be&#x017F;ta&#x0364;tigten Treu bin.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="10">
            <l>So &#x017F;prach <hi rendition="#fr">Adam,</hi> be&#x017F;orgt in &#x017F;einer ehlichen Liebe.<lb/><note place="left">335</note>Aber <hi rendition="#fr">Eva,</hi> welche vermeynte, man traue zu wenig</l><lb/>
            <l>Jhrer Tugend und Treu, ver&#x017F;etzte mit lieblicher Stimme.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="11">
            <l>J&#x017F;t das un&#x017F;er geprie&#x017F;ener Stand, im eng&#x017F;ten Bezirke</l><lb/>
            <l>Einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en zu &#x017F;eyn, von einem grimmigen Feinde</l><lb/>
            <l>Voll von Wuth, oder Li&#x017F;t; i&#x017F;t jedes von uns fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elber<lb/><note place="left">340</note>Nicht genug&#x017F;am bewehrt, ihn, wo er auch immer uns findet,</l><lb/>
            <l>Mit gleich ma&#x0364;chtigem Muth zu begegnen: &#x2014; wie &#x017F;ind wir da glu&#x0364;cklich?</l><lb/>
            <l>Glu&#x0364;cklich in einer be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Furcht vor Leid und vor Unglu&#x0364;ck?</l><lb/>
            <l>Aber Unglu&#x0364;ck und Leid kann vor der Su&#x0364;nd&#x2019; uns nicht treffen;</l><lb/>
            <l>Denn die Ver&#x017F;uchung des Feindes be&#x017F;chimpft uns allein durch &#x017F;ein Urtheil,<lb/><note place="left">345</note>Welches un&#x017F;ere Treu entehrt; &#x017F;ein &#x017F;chimpfliches Urtheil</l><lb/>
            <l>Kann uns indeß nicht beflecken; es fa&#x0364;llt vielmehr auf ihn &#x017F;elber</l><lb/>
            <l>Voller Schande zuru&#x0364;ck. Was haben wir ihn denn zu fu&#x0364;rchten?</l><lb/>
            <l>Haben wir nicht gedoppelten Ruhm dadurch zu erwerben,</l><lb/>
            <l>Wenn &#x017F;ein &#x017F;cha&#x0364;ndlicher Argwohn ihn tru&#x0364;gt? Dann haben wir in uns<lb/><note place="left">350</note>Frieden, und Gun&#x017F;t vom Himmel, und von dem Ausgang Bewei&#x017F;e.</l><lb/>
            <l>Was i&#x017F;t Lieb&#x2019; und Tugend und Treu, wofern &#x017F;ie nicht &#x017F;elber,</l><lb/>
            <l>Ohne Hu&#x0364;lfe von andern, &#x017F;ich zu erhalten vermo&#x0364;chten!</l><lb/>
            <l>Bilde dir al&#x017F;o nicht ein, daß die&#x017F;en &#x017F;eeligen Zu&#x017F;tand</l><lb/>
            <l>Un&#x017F;er wei&#x017F;e&#x017F;ter Scho&#x0364;pfer &#x017F;o unvollkommen gela&#x017F;&#x017F;en,<lb/><note place="left">355</note>Daß nicht jedes von uns, &#x017F;owohl allein, als bey&#x017F;ammen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">II.</hi><hi rendition="#fr">Theil.</hi> L</fw><fw place="bottom" type="catch">Sicher</fw><lb/></l>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0101] Neunter Geſang. Und nicht lieber zugleich mit mir die Verſuchung erwarten, Da ich der beſte Zeuge von deiner beſtaͤtigten Treu bin. So ſprach Adam, beſorgt in ſeiner ehlichen Liebe. Aber Eva, welche vermeynte, man traue zu wenig Jhrer Tugend und Treu, verſetzte mit lieblicher Stimme. Jſt das unſer geprieſener Stand, im engſten Bezirke Eingeſchloſſen zu ſeyn, von einem grimmigen Feinde Voll von Wuth, oder Liſt; iſt jedes von uns fuͤr ſich ſelber Nicht genugſam bewehrt, ihn, wo er auch immer uns findet, Mit gleich maͤchtigem Muth zu begegnen: — wie ſind wir da gluͤcklich? Gluͤcklich in einer beſtaͤndigen Furcht vor Leid und vor Ungluͤck? Aber Ungluͤck und Leid kann vor der Suͤnd’ uns nicht treffen; Denn die Verſuchung des Feindes beſchimpft uns allein durch ſein Urtheil, Welches unſere Treu entehrt; ſein ſchimpfliches Urtheil Kann uns indeß nicht beflecken; es faͤllt vielmehr auf ihn ſelber Voller Schande zuruͤck. Was haben wir ihn denn zu fuͤrchten? Haben wir nicht gedoppelten Ruhm dadurch zu erwerben, Wenn ſein ſchaͤndlicher Argwohn ihn truͤgt? Dann haben wir in uns Frieden, und Gunſt vom Himmel, und von dem Ausgang Beweiſe. Was iſt Lieb’ und Tugend und Treu, wofern ſie nicht ſelber, Ohne Huͤlfe von andern, ſich zu erhalten vermoͤchten! Bilde dir alſo nicht ein, daß dieſen ſeeligen Zuſtand Unſer weiſeſter Schoͤpfer ſo unvollkommen gelaſſen, Daß nicht jedes von uns, ſowohl allein, als beyſammen, Sicher II. Theil. L

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/101
Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/101>, abgerufen am 16.05.2024.