Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.
Michael sagte darauf: Du schämst des entarteten Sohnes Dich mit Recht; er der zuerst in den friedlichen Zustand Seiner glücklichen Brüder so viele Verwirrung gebracht hat, 90Und die vernünftige Freyheit zu unterdrücken gewaget. Aber wisse, die wahre Freyheit ist, seit du gefallen, Schon verlohren gegangen. Sie, welche niemals zu trennen Von der gesunden Vernunft, ist immer mit ihr gepaaret. Wenn die reine Vernunft sich bey den Menschen verdunkelt, 95Oder er ihr nicht länger gehorcht; so nehmen statt ihrer Wilde Begierden nunmehr und wüthende Leidenschaften Sich das Zepter, und zwingen die freygewesenen Menschen Unter das Joch. Drum weil er erlaubt, daß schimpfliche Triebe Ueber die freye Vernunft in ihm regieren: so giebt ihn 100Gott, durch ein gerechtes Gericht, tyrannischen Herren, Die mit Gewalt ihn auch der äußeren Freyheit berauben. Tyranney ist nothwendig, obgleich Tyrannen deswegen Nicht zu entschuldigen sind. Doch werden oft Völker von Tugend, Die allein Vernunft ist, so tief heruntersinken, 105Daß sie kein Unrecht, sondern vielmehr ein entsetzliches Urtheil, Das
Michael ſagte darauf: Du ſchaͤmſt des entarteten Sohnes Dich mit Recht; er der zuerſt in den friedlichen Zuſtand Seiner gluͤcklichen Bruͤder ſo viele Verwirrung gebracht hat, 90Und die vernuͤnftige Freyheit zu unterdruͤcken gewaget. Aber wiſſe, die wahre Freyheit iſt, ſeit du gefallen, Schon verlohren gegangen. Sie, welche niemals zu trennen Von der geſunden Vernunft, iſt immer mit ihr gepaaret. Wenn die reine Vernunft ſich bey den Menſchen verdunkelt, 95Oder er ihr nicht laͤnger gehorcht; ſo nehmen ſtatt ihrer Wilde Begierden nunmehr und wuͤthende Leidenſchaften Sich das Zepter, und zwingen die freygeweſenen Menſchen Unter das Joch. Drum weil er erlaubt, daß ſchimpfliche Triebe Ueber die freye Vernunft in ihm regieren: ſo giebt ihn 100Gott, durch ein gerechtes Gericht, tyranniſchen Herren, Die mit Gewalt ihn auch der aͤußeren Freyheit berauben. Tyranney iſt nothwendig, obgleich Tyrannen deswegen Nicht zu entſchuldigen ſind. Doch werden oft Voͤlker von Tugend, Die allein Vernunft iſt, ſo tief herunterſinken, 105Daß ſie kein Unrecht, ſondern vielmehr ein entſetzliches Urtheil, Das
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Zwoͤlfter Geſang.
Stolzer gebrechlicher Menſch! Was kann er vor Nahrung und Speiſen
Zu der enſetzlichen Hoͤhe hinauf zu bringen ſich ſchmeicheln,
Sich und ſeine verwegene Schaar damit zu erhalten;
Da, wo die duͤnnere Luft, die uͤber den Wolken regieret,
Jhm ſein Jnnres verdorrt, und ihn der Hunger nach Athem,
Oder wo nicht, der Hunger gewiß nach Brodte verzehret.
Michael ſagte darauf: Du ſchaͤmſt des entarteten Sohnes
Dich mit Recht; er der zuerſt in den friedlichen Zuſtand
Seiner gluͤcklichen Bruͤder ſo viele Verwirrung gebracht hat,
Und die vernuͤnftige Freyheit zu unterdruͤcken gewaget.
Aber wiſſe, die wahre Freyheit iſt, ſeit du gefallen,
Schon verlohren gegangen. Sie, welche niemals zu trennen
Von der geſunden Vernunft, iſt immer mit ihr gepaaret.
Wenn die reine Vernunft ſich bey den Menſchen verdunkelt,
Oder er ihr nicht laͤnger gehorcht; ſo nehmen ſtatt ihrer
Wilde Begierden nunmehr und wuͤthende Leidenſchaften
Sich das Zepter, und zwingen die freygeweſenen Menſchen
Unter das Joch. Drum weil er erlaubt, daß ſchimpfliche Triebe
Ueber die freye Vernunft in ihm regieren: ſo giebt ihn
Gott, durch ein gerechtes Gericht, tyranniſchen Herren,
Die mit Gewalt ihn auch der aͤußeren Freyheit berauben.
Tyranney iſt nothwendig, obgleich Tyrannen deswegen
Nicht zu entſchuldigen ſind. Doch werden oft Voͤlker von Tugend,
Die allein Vernunft iſt, ſo tief herunterſinken,
Daß ſie kein Unrecht, ſondern vielmehr ein entſetzliches Urtheil,
Das
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