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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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der That historisches Moment hat; es soll nämlich
bereits zu Anfange des neunten Siecle" --

"Schweig mir, du Teufel, und führ' mich zu ihm,"
schreit Nolten, indem er den Burschen mit sich fort-
reißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift
nichts von Allem und fleht mit Nannetten verge-
bens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie
von Sinnen einige unverständliche Worte zu und stürmt
mit Wispeln die Treppe hinunter.

Sie kommen vor den erwähnten Gasthof und
treten in die große Wirthsstube vorn, die sich unter-
dessen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl
und Geschwirre der Gäste ist so unmäßig, daß Nie-
mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft Wispel
unserm Maler sachte auf die Schulter und deutet zwi-
schen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den
wir vorhin als Joseph, den Tischler, bezeichneten.
Nolten, wie er hinschaut, wie er das Gesicht des
Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu sinken, seine
Brust krampft sich zusammen im entsetzlichsten Drang
der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum
Zweitenmal hinzusehn, und doch, er wagt's und -- ja!
es ist sein Larkens! er ist's, aber Gott! in welcher
unseligen Verwandlung! Wie mit umstrickten Füßen
bleibt Theobald an eine Säule gelehnt stehen, die
Hände vor's Auge gedeckt und glühende Thränen ent-
stürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm ist,
als wenn er, von einer Riesenhand im Flug einer

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der That hiſtoriſches Moment hat; es ſoll nämlich
bereits zu Anfange des neunten Siècle“ —

„Schweig mir, du Teufel, und führ’ mich zu ihm,“
ſchreit Nolten, indem er den Burſchen mit ſich fort-
reißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift
nichts von Allem und fleht mit Nannetten verge-
bens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie
von Sinnen einige unverſtändliche Worte zu und ſtürmt
mit Wispeln die Treppe hinunter.

Sie kommen vor den erwähnten Gaſthof und
treten in die große Wirthsſtube vorn, die ſich unter-
deſſen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl
und Geſchwirre der Gäſte iſt ſo unmäßig, daß Nie-
mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft Wispel
unſerm Maler ſachte auf die Schulter und deutet zwi-
ſchen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den
wir vorhin als Joſeph, den Tiſchler, bezeichneten.
Nolten, wie er hinſchaut, wie er das Geſicht des
Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu ſinken, ſeine
Bruſt krampft ſich zuſammen im entſetzlichſten Drang
der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum
Zweitenmal hinzuſehn, und doch, er wagt’s und — ja!
es iſt ſein Larkens! er iſt’s, aber Gott! in welcher
unſeligen Verwandlung! Wie mit umſtrickten Füßen
bleibt Theobald an eine Säule gelehnt ſtehen, die
Hände vor’s Auge gedeckt und glühende Thränen ent-
ſtürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm iſt,
als wenn er, von einer Rieſenhand im Flug einer

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[497/0183] der That hiſtoriſches Moment hat; es ſoll nämlich bereits zu Anfange des neunten Siècle“ — „Schweig mir, du Teufel, und führ’ mich zu ihm,“ ſchreit Nolten, indem er den Burſchen mit ſich fort- reißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift nichts von Allem und fleht mit Nannetten verge- bens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie von Sinnen einige unverſtändliche Worte zu und ſtürmt mit Wispeln die Treppe hinunter. Sie kommen vor den erwähnten Gaſthof und treten in die große Wirthsſtube vorn, die ſich unter- deſſen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl und Geſchwirre der Gäſte iſt ſo unmäßig, daß Nie- mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft Wispel unſerm Maler ſachte auf die Schulter und deutet zwi- ſchen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den wir vorhin als Joſeph, den Tiſchler, bezeichneten. Nolten, wie er hinſchaut, wie er das Geſicht des Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu ſinken, ſeine Bruſt krampft ſich zuſammen im entſetzlichſten Drang der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum Zweitenmal hinzuſehn, und doch, er wagt’s und — ja! es iſt ſein Larkens! er iſt’s, aber Gott! in welcher unſeligen Verwandlung! Wie mit umſtrickten Füßen bleibt Theobald an eine Säule gelehnt ſtehen, die Hände vor’s Auge gedeckt und glühende Thränen ent- ſtürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm iſt, als wenn er, von einer Rieſenhand im Flug einer 32

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/183>, abgerufen am 24.11.2024.