der That historisches Moment hat; es soll nämlich bereits zu Anfange des neunten Siecle" --
"Schweig mir, du Teufel, und führ' mich zu ihm," schreit Nolten, indem er den Burschen mit sich fort- reißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift nichts von Allem und fleht mit Nannetten verge- bens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie von Sinnen einige unverständliche Worte zu und stürmt mit Wispeln die Treppe hinunter.
Sie kommen vor den erwähnten Gasthof und treten in die große Wirthsstube vorn, die sich unter- dessen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl und Geschwirre der Gäste ist so unmäßig, daß Nie- mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft Wispel unserm Maler sachte auf die Schulter und deutet zwi- schen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den wir vorhin als Joseph, den Tischler, bezeichneten. Nolten, wie er hinschaut, wie er das Gesicht des Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu sinken, seine Brust krampft sich zusammen im entsetzlichsten Drang der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum Zweitenmal hinzusehn, und doch, er wagt's und -- ja! es ist sein Larkens! er ist's, aber Gott! in welcher unseligen Verwandlung! Wie mit umstrickten Füßen bleibt Theobald an eine Säule gelehnt stehen, die Hände vor's Auge gedeckt und glühende Thränen ent- stürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm ist, als wenn er, von einer Riesenhand im Flug einer
32
der That hiſtoriſches Moment hat; es ſoll nämlich bereits zu Anfange des neunten Siècle“ —
„Schweig mir, du Teufel, und führ’ mich zu ihm,“ ſchreit Nolten, indem er den Burſchen mit ſich fort- reißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift nichts von Allem und fleht mit Nannetten verge- bens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie von Sinnen einige unverſtändliche Worte zu und ſtürmt mit Wispeln die Treppe hinunter.
Sie kommen vor den erwähnten Gaſthof und treten in die große Wirthsſtube vorn, die ſich unter- deſſen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl und Geſchwirre der Gäſte iſt ſo unmäßig, daß Nie- mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft Wispel unſerm Maler ſachte auf die Schulter und deutet zwi- ſchen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den wir vorhin als Joſeph, den Tiſchler, bezeichneten. Nolten, wie er hinſchaut, wie er das Geſicht des Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu ſinken, ſeine Bruſt krampft ſich zuſammen im entſetzlichſten Drang der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum Zweitenmal hinzuſehn, und doch, er wagt’s und — ja! es iſt ſein Larkens! er iſt’s, aber Gott! in welcher unſeligen Verwandlung! Wie mit umſtrickten Füßen bleibt Theobald an eine Säule gelehnt ſtehen, die Hände vor’s Auge gedeckt und glühende Thränen ent- ſtürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm iſt, als wenn er, von einer Rieſenhand im Flug einer
32
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0183"n="497"/>
der That hiſtoriſches Moment hat; es ſoll nämlich<lb/>
bereits zu Anfange des neunten <hirendition="#aq">Siècle</hi>“—</p><lb/><p>„Schweig mir, du Teufel, und führ’ mich zu ihm,“<lb/>ſchreit <hirendition="#g">Nolten</hi>, indem er den Burſchen mit ſich fort-<lb/>
reißt. <hirendition="#g">Agnes</hi>, am ganzen Leibe zitternd, begreift<lb/>
nichts von Allem und fleht mit <hirendition="#g">Nannetten</hi> verge-<lb/>
bens um eine Erklärung; <hirendition="#g">Theobald</hi> wirft ihr wie<lb/>
von Sinnen einige unverſtändliche Worte zu und ſtürmt<lb/>
mit <hirendition="#g">Wispeln</hi> die Treppe hinunter.</p><lb/><p>Sie kommen vor den erwähnten Gaſthof und<lb/>
treten in die große Wirthsſtube vorn, die ſich unter-<lb/>
deſſen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl<lb/>
und Geſchwirre der Gäſte iſt ſo unmäßig, daß Nie-<lb/>
mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft <hirendition="#g">Wispel</hi><lb/>
unſerm Maler ſachte auf die Schulter und deutet zwi-<lb/>ſchen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den<lb/>
wir vorhin als <hirendition="#g">Joſeph</hi>, den Tiſchler, bezeichneten.<lb/><hirendition="#g">Nolten</hi>, wie er hinſchaut, wie er das Geſicht des<lb/>
Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu ſinken, ſeine<lb/>
Bruſt krampft ſich zuſammen im entſetzlichſten Drang<lb/>
der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum<lb/>
Zweitenmal hinzuſehn, und doch, er wagt’s und — ja!<lb/>
es iſt ſein <hirendition="#g">Larkens</hi>! er iſt’s, aber Gott! in welcher<lb/>
unſeligen Verwandlung! Wie mit umſtrickten Füßen<lb/>
bleibt <hirendition="#g">Theobald</hi> an eine Säule gelehnt ſtehen, die<lb/>
Hände vor’s Auge gedeckt und glühende Thränen ent-<lb/>ſtürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm iſt,<lb/>
als wenn er, von einer Rieſenhand im Flug einer<lb/><fwplace="bottom"type="sig">32</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[497/0183]
der That hiſtoriſches Moment hat; es ſoll nämlich
bereits zu Anfange des neunten Siècle“ —
„Schweig mir, du Teufel, und führ’ mich zu ihm,“
ſchreit Nolten, indem er den Burſchen mit ſich fort-
reißt. Agnes, am ganzen Leibe zitternd, begreift
nichts von Allem und fleht mit Nannetten verge-
bens um eine Erklärung; Theobald wirft ihr wie
von Sinnen einige unverſtändliche Worte zu und ſtürmt
mit Wispeln die Treppe hinunter.
Sie kommen vor den erwähnten Gaſthof und
treten in die große Wirthsſtube vorn, die ſich unter-
deſſen ganz gefüllt hatte. Der Dampf, das Gewühl
und Geſchwirre der Gäſte iſt ſo unmäßig, daß Nie-
mand die Eintretenden bemerkt. Jezt klopft Wispel
unſerm Maler ſachte auf die Schulter und deutet zwi-
ſchen einigen Köpfen hindurch auf den Mann, den
wir vorhin als Joſeph, den Tiſchler, bezeichneten.
Nolten, wie er hinſchaut, wie er das Geſicht des
Fremden erkennt, glaubt in die Erde zu ſinken, ſeine
Bruſt krampft ſich zuſammen im entſetzlichſten Drang
der Freude und des Schmerzens, er wagt nicht zum
Zweitenmal hinzuſehn, und doch, er wagt’s und — ja!
es iſt ſein Larkens! er iſt’s, aber Gott! in welcher
unſeligen Verwandlung! Wie mit umſtrickten Füßen
bleibt Theobald an eine Säule gelehnt ſtehen, die
Hände vor’s Auge gedeckt und glühende Thränen ent-
ſtürzen ihm. So verharrt er eine Weile. Ihm iſt,
als wenn er, von einer Rieſenhand im Flug einer
32
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/183>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.