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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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lichkeit gedenkbar gewesen; in seiner Wohnung wisse
man nichts von ihm, doch wäre zu vermuthen, daß
er sich eingeriegelt hätte, denn ein Nachbar wolle ihn
haben in das Haus gehen sehn.

Da es schon sehr spät war, mußte man für
heute jeden weitern Versuch aufgeben. Man verab-
redete das Nöthige für den folgenden Tag und die
auf morgen früh festgesezte Abreise ward verschoben.
Unsere Reisenden begaben sich zur Ruhe; alle ver-
brachten eine schlaflose Nacht.


Des andern Morgens, die Sonne war eben herr-
lich aufgegangen, erhob sich unser Freund in aller
Stille und suchte sein erhiztes Blut im Freien abzu-
kühlen. Erst durchstrich er einige Straßen der noch
wenig belebten Stadt, wo er die fremden Häuser, die
Plätze, das Pflaster, jeden unbedeutenden Gegenstand
mit stiller Aufmerksamkeit betrachten mußte, weil sich
Alles mit dem Bilde seines Freundes in eine weh-
müthige Verbindung zu setzen schien. So oft er wie-
der um eine Ecke beugte, sollte ihm, wie er meinte,
der Zufall Larkens in die Hände führen. Aber da
war keine bekannte Seele weit und breit. Die Schwal-
ben zwitscherten und schwirrten fröhlich durch den
Morgenduft, und Theobald konnte nicht umhin,
diese glücklichen Geschöpfe zu beneiden. Wie hätte
er so gerne die Erscheinung von gestern als einen

lichkeit gedenkbar geweſen; in ſeiner Wohnung wiſſe
man nichts von ihm, doch wäre zu vermuthen, daß
er ſich eingeriegelt hätte, denn ein Nachbar wolle ihn
haben in das Haus gehen ſehn.

Da es ſchon ſehr ſpät war, mußte man für
heute jeden weitern Verſuch aufgeben. Man verab-
redete das Nöthige für den folgenden Tag und die
auf morgen früh feſtgeſezte Abreiſe ward verſchoben.
Unſere Reiſenden begaben ſich zur Ruhe; alle ver-
brachten eine ſchlafloſe Nacht.


Des andern Morgens, die Sonne war eben herr-
lich aufgegangen, erhob ſich unſer Freund in aller
Stille und ſuchte ſein erhiztes Blut im Freien abzu-
kühlen. Erſt durchſtrich er einige Straßen der noch
wenig belebten Stadt, wo er die fremden Häuſer, die
Plätze, das Pflaſter, jeden unbedeutenden Gegenſtand
mit ſtiller Aufmerkſamkeit betrachten mußte, weil ſich
Alles mit dem Bilde ſeines Freundes in eine weh-
müthige Verbindung zu ſetzen ſchien. So oft er wie-
der um eine Ecke beugte, ſollte ihm, wie er meinte,
der Zufall Larkens in die Hände führen. Aber da
war keine bekannte Seele weit und breit. Die Schwal-
ben zwitſcherten und ſchwirrten fröhlich durch den
Morgenduft, und Theobald konnte nicht umhin,
dieſe glücklichen Geſchöpfe zu beneiden. Wie hätte
er ſo gerne die Erſcheinung von geſtern als einen

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[499/0185] lichkeit gedenkbar geweſen; in ſeiner Wohnung wiſſe man nichts von ihm, doch wäre zu vermuthen, daß er ſich eingeriegelt hätte, denn ein Nachbar wolle ihn haben in das Haus gehen ſehn. Da es ſchon ſehr ſpät war, mußte man für heute jeden weitern Verſuch aufgeben. Man verab- redete das Nöthige für den folgenden Tag und die auf morgen früh feſtgeſezte Abreiſe ward verſchoben. Unſere Reiſenden begaben ſich zur Ruhe; alle ver- brachten eine ſchlafloſe Nacht. Des andern Morgens, die Sonne war eben herr- lich aufgegangen, erhob ſich unſer Freund in aller Stille und ſuchte ſein erhiztes Blut im Freien abzu- kühlen. Erſt durchſtrich er einige Straßen der noch wenig belebten Stadt, wo er die fremden Häuſer, die Plätze, das Pflaſter, jeden unbedeutenden Gegenſtand mit ſtiller Aufmerkſamkeit betrachten mußte, weil ſich Alles mit dem Bilde ſeines Freundes in eine weh- müthige Verbindung zu ſetzen ſchien. So oft er wie- der um eine Ecke beugte, ſollte ihm, wie er meinte, der Zufall Larkens in die Hände führen. Aber da war keine bekannte Seele weit und breit. Die Schwal- ben zwitſcherten und ſchwirrten fröhlich durch den Morgenduft, und Theobald konnte nicht umhin, dieſe glücklichen Geſchöpfe zu beneiden. Wie hätte er ſo gerne die Erſcheinung von geſtern als einen

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/185>, abgerufen am 24.11.2024.