auch nur wagen durfte. "Du kennst, du kennst ihn nicht!" rief er zulezt mit Eifer aus, "es ist unmög- lich! O daß er dir nur Einmal so erschienen wäre, wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erschien, du würdest einen andern Maßstab für ihn finden, viel- mehr du würdest jedes hergebrachte Maß unwillig auf die Seite werfen. Ja, liebstes Herz" (er stockte, sich besinnend, dann rief er ungeduldig:) "Warum es dir verhalten? was ängstigt mich? O Gott, bin ich es ihm nicht schuldig? Du sollst, Agnes, ich will's, du mußt ihn lieben lernen! dieß ist der Augenblick, um dir das rührendste Geheimniß aufzudecken. Du bist gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jezt, ver- steh' mich Liebste, jezt, da wir uns ganz -- so selig ungetheilt besitzen, nicht mehr erschrecken kann. Wie? hat denn das Gewitter, das mit entsetzlichen Schlä- gen noch eben jezt erschütternd ob deinem Haupte stand, uns etwas Anderes zurückgelassen, als den er- hebenden Nachhall seiner Größe, der noch durch deine erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren gött- licher Fruchtbarkeit? die süße, rein verkühlte Luft? Wir können vom Vergangenen gelassen reden, ohne Furcht, daß es deßhalb mit seiner alten Pein auf's Neue gegen uns aufstehen werde. Wär' es nur Tag, nun würde rings die Gegend vom tausendfachen Glanz der Sonne widerleuchten! Doch, sey es immer Nacht! Mit tiefer Wehmuth weihe sie ein jedes meiner Worte, wenn ich nunmehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn
auch nur wagen durfte. „Du kennſt, du kennſt ihn nicht!“ rief er zulezt mit Eifer aus, „es iſt unmög- lich! O daß er dir nur Einmal ſo erſchienen wäre, wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erſchien, du würdeſt einen andern Maßſtab für ihn finden, viel- mehr du würdeſt jedes hergebrachte Maß unwillig auf die Seite werfen. Ja, liebſtes Herz“ (er ſtockte, ſich beſinnend, dann rief er ungeduldig:) „Warum es dir verhalten? was ängſtigt mich? O Gott, bin ich es ihm nicht ſchuldig? Du ſollſt, Agnes, ich will’s, du mußt ihn lieben lernen! dieß iſt der Augenblick, um dir das rührendſte Geheimniß aufzudecken. Du biſt gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jezt, ver- ſteh’ mich Liebſte, jezt, da wir uns ganz — ſo ſelig ungetheilt beſitzen, nicht mehr erſchrecken kann. Wie? hat denn das Gewitter, das mit entſetzlichen Schlä- gen noch eben jezt erſchütternd ob deinem Haupte ſtand, uns etwas Anderes zurückgelaſſen, als den er- hebenden Nachhall ſeiner Größe, der noch durch deine erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren gött- licher Fruchtbarkeit? die ſüße, rein verkühlte Luft? Wir können vom Vergangenen gelaſſen reden, ohne Furcht, daß es deßhalb mit ſeiner alten Pein auf’s Neue gegen uns aufſtehen werde. Wär’ es nur Tag, nun würde rings die Gegend vom tauſendfachen Glanz der Sonne widerleuchten! Doch, ſey es immer Nacht! Mit tiefer Wehmuth weihe ſie ein jedes meiner Worte, wenn ich nunmehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0250"n="564"/>
auch nur wagen durfte. „Du kennſt, du kennſt ihn<lb/>
nicht!“ rief er zulezt mit Eifer aus, „es iſt unmög-<lb/>
lich! O daß er dir nur Einmal ſo erſchienen wäre,<lb/>
wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erſchien, du<lb/>
würdeſt einen andern Maßſtab für ihn finden, viel-<lb/>
mehr du würdeſt jedes hergebrachte Maß unwillig auf<lb/>
die Seite werfen. Ja, liebſtes Herz“ (er ſtockte, ſich<lb/>
beſinnend, dann rief er ungeduldig:) „Warum es dir<lb/>
verhalten? was ängſtigt mich? O Gott, bin ich es<lb/>
ihm nicht ſchuldig? Du ſollſt, <hirendition="#g">Agnes</hi>, ich will’s, du<lb/>
mußt ihn lieben lernen! dieß iſt der Augenblick, um<lb/>
dir das rührendſte Geheimniß aufzudecken. Du biſt<lb/>
gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jezt, ver-<lb/>ſteh’ mich Liebſte, jezt, da wir uns ganz —ſo ſelig<lb/>
ungetheilt beſitzen, nicht mehr erſchrecken kann. Wie?<lb/>
hat denn das Gewitter, das mit entſetzlichen Schlä-<lb/>
gen noch eben jezt erſchütternd ob deinem Haupte<lb/>ſtand, uns etwas Anderes zurückgelaſſen, als den er-<lb/>
hebenden Nachhall ſeiner Größe, der noch durch deine<lb/>
erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren gött-<lb/>
licher Fruchtbarkeit? die ſüße, rein verkühlte Luft?<lb/>
Wir können vom Vergangenen gelaſſen reden, ohne<lb/>
Furcht, daß es deßhalb mit ſeiner alten Pein auf’s<lb/>
Neue gegen uns aufſtehen werde. Wär’ es nur Tag,<lb/>
nun würde rings die Gegend vom tauſendfachen Glanz<lb/>
der Sonne widerleuchten! Doch, ſey es immer Nacht!<lb/>
Mit tiefer Wehmuth weihe ſie ein jedes meiner Worte,<lb/>
wenn ich nunmehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[564/0250]
auch nur wagen durfte. „Du kennſt, du kennſt ihn
nicht!“ rief er zulezt mit Eifer aus, „es iſt unmög-
lich! O daß er dir nur Einmal ſo erſchienen wäre,
wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erſchien, du
würdeſt einen andern Maßſtab für ihn finden, viel-
mehr du würdeſt jedes hergebrachte Maß unwillig auf
die Seite werfen. Ja, liebſtes Herz“ (er ſtockte, ſich
beſinnend, dann rief er ungeduldig:) „Warum es dir
verhalten? was ängſtigt mich? O Gott, bin ich es
ihm nicht ſchuldig? Du ſollſt, Agnes, ich will’s, du
mußt ihn lieben lernen! dieß iſt der Augenblick, um
dir das rührendſte Geheimniß aufzudecken. Du biſt
gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jezt, ver-
ſteh’ mich Liebſte, jezt, da wir uns ganz — ſo ſelig
ungetheilt beſitzen, nicht mehr erſchrecken kann. Wie?
hat denn das Gewitter, das mit entſetzlichen Schlä-
gen noch eben jezt erſchütternd ob deinem Haupte
ſtand, uns etwas Anderes zurückgelaſſen, als den er-
hebenden Nachhall ſeiner Größe, der noch durch deine
erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren gött-
licher Fruchtbarkeit? die ſüße, rein verkühlte Luft?
Wir können vom Vergangenen gelaſſen reden, ohne
Furcht, daß es deßhalb mit ſeiner alten Pein auf’s
Neue gegen uns aufſtehen werde. Wär’ es nur Tag,
nun würde rings die Gegend vom tauſendfachen Glanz
der Sonne widerleuchten! Doch, ſey es immer Nacht!
Mit tiefer Wehmuth weihe ſie ein jedes meiner Worte,
wenn ich nunmehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 564. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/250>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.