wie verwais't, seit ihm die Freundin und Gebieterin fehlte. Er war ihr so nahe, so eigen geworden, er hatte insgeheim die schüchterne Hoffnung genährt -- eine Hoffnung, deren er sich jezt innig schämte -- Gott könnte ihm vielleicht die Freude aufbehalten haben, die arme Seele mit der Kraft des evangelischen Wortes zu der Erkenntniß ihrer selbst, zum Lichte der Wahrheit zurückzuführen; sein ganzes Trachten und Sinnen, alle seine Gebete gingen zulezt nur da- hin, und wie viel schrecklicher als er je fürchten konnte, ward nun sein frommes Vertrauen getäuscht! -- Er hält und drückt eine theure kalte Hand, die er nicht sieht, in seinen Händen, und lispelt heiße Segens- worte drüber; er denkt über die erziehende Weisheit Desjenigen nach, an welchen er von ganzer Seele glaubt, vor dessen durchdringendem Blick das Buch aller Zeiten aufgeschlagen liegt, der die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche, in welchem wir le- ben, weben und sind. Er schrickt augenblicklich zu- sammen vor seligem Schrecken, indem er bedenkt, daß das, was vor ihm liegt, was er mit glühenden Thrä- nen anredet, ein taubes Nichts, ein werthloses Schein- bild ist, daß der entflohene Geist, viel lieblicher ge- staltet, vielleicht in dieser Stunde am hellen Strome des Paradieses kniee und, das irre Auge mit lauterer Klarheit auswaschend, unter befremdetem Lächeln sich glücklich wieder erkenne und finde. -- Henni stand sachte auf, von einer unbekannten süßen Unruhe be-
wie verwaiſ’t, ſeit ihm die Freundin und Gebieterin fehlte. Er war ihr ſo nahe, ſo eigen geworden, er hatte insgeheim die ſchüchterne Hoffnung genährt — eine Hoffnung, deren er ſich jezt innig ſchämte — Gott könnte ihm vielleicht die Freude aufbehalten haben, die arme Seele mit der Kraft des evangeliſchen Wortes zu der Erkenntniß ihrer ſelbſt, zum Lichte der Wahrheit zurückzuführen; ſein ganzes Trachten und Sinnen, alle ſeine Gebete gingen zulezt nur da- hin, und wie viel ſchrecklicher als er je fürchten konnte, ward nun ſein frommes Vertrauen getäuſcht! — Er hält und drückt eine theure kalte Hand, die er nicht ſieht, in ſeinen Händen, und liſpelt heiße Segens- worte drüber; er denkt über die erziehende Weisheit Desjenigen nach, an welchen er von ganzer Seele glaubt, vor deſſen durchdringendem Blick das Buch aller Zeiten aufgeſchlagen liegt, der die Herzen der Menſchen lenkt wie Waſſerbäche, in welchem wir le- ben, weben und ſind. Er ſchrickt augenblicklich zu- ſammen vor ſeligem Schrecken, indem er bedenkt, daß das, was vor ihm liegt, was er mit glühenden Thrä- nen anredet, ein taubes Nichts, ein werthloſes Schein- bild iſt, daß der entflohene Geiſt, viel lieblicher ge- ſtaltet, vielleicht in dieſer Stunde am hellen Strome des Paradieſes kniee und, das irre Auge mit lauterer Klarheit auswaſchend, unter befremdetem Lächeln ſich glücklich wieder erkenne und finde. — Henni ſtand ſachte auf, von einer unbekannten ſüßen Unruhe be-
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wie verwaiſ’t, ſeit ihm die Freundin und Gebieterin
fehlte. Er war ihr ſo nahe, ſo eigen geworden, er
hatte insgeheim die ſchüchterne Hoffnung genährt —
eine Hoffnung, deren er ſich jezt innig ſchämte —
Gott könnte ihm vielleicht die Freude aufbehalten
haben, die arme Seele mit der Kraft des evangeliſchen
Wortes zu der Erkenntniß ihrer ſelbſt, zum Lichte
der Wahrheit zurückzuführen; ſein ganzes Trachten
und Sinnen, alle ſeine Gebete gingen zulezt nur da-
hin, und wie viel ſchrecklicher als er je fürchten konnte,
ward nun ſein frommes Vertrauen getäuſcht! — Er
hält und drückt eine theure kalte Hand, die er nicht
ſieht, in ſeinen Händen, und liſpelt heiße Segens-
worte drüber; er denkt über die erziehende Weisheit
Desjenigen nach, an welchen er von ganzer Seele
glaubt, vor deſſen durchdringendem Blick das Buch
aller Zeiten aufgeſchlagen liegt, der die Herzen der
Menſchen lenkt wie Waſſerbäche, in welchem wir le-
ben, weben und ſind. Er ſchrickt augenblicklich zu-
ſammen vor ſeligem Schrecken, indem er bedenkt, daß
das, was vor ihm liegt, was er mit glühenden Thrä-
nen anredet, ein taubes Nichts, ein werthloſes Schein-
bild iſt, daß der entflohene Geiſt, viel lieblicher ge-
ſtaltet, vielleicht in dieſer Stunde am hellen Strome
des Paradieſes kniee und, das irre Auge mit lauterer
Klarheit auswaſchend, unter befremdetem Lächeln ſich
glücklich wieder erkenne und finde. — Henni ſtand
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 628. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/314>, abgerufen am 24.11.2024.
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