"Ich kann," erwiderte Nolten nach einer klei- nen Stille, "ich kann zur Noth verstehen, was Sie meinen, und doch -- das Unglück macht so träge, daß Ihre liebevollen Worte nur halb mein stumpfes Ohr noch treffen -- O daß ein Schlaf sich auf mich legte, wie Berge so schwer und so dumpf! Daß ich nichts wüßte von Gestern und Heute und Morgen! Daß eine Gottheit diesen mattgehezten Geist, weichbettend, in das alte Nichts hinfallen ließe! ein unermeßlich Glück -- --!" Er überließ sich einen Augenblick die- sem Gedanken, dann fuhr er fort: "Ja, läge zum wenig- sten nur diese erste Stufe hinter mir! Und doch, wer kann wissen, ob sich dort nicht der Knoten nochmals verschlingt? -- -- O Leben! o Tod! Räthsel aus Räthseln! Wo wir den Sinn am sichersten zu treffen meinten, da liegt er so selten, und wo man ihn nicht suchte, da gibt er sich auf einmal halb und von ferne zu erkennen, und verschwindet, eh' man ihn festhalten kann!"
Agnesens Begräbniß ist auf den morgenden Sonntag beschlossen.
Die Nacht zuvor schläft Nolten ruhig wie seit langer Zeit nicht mehr. Der ehrliche Gärtner muthet sich zu, noch einmal bei der geliebten Leiche zu wa- chen, ihm leistet der Sohn Gesellschaft, und da der Alte endlich einnickt, ist Henni die einzig wache Per- son in dem Schlosse. -- Der gute Junge war recht
„Ich kann,“ erwiderte Nolten nach einer klei- nen Stille, „ich kann zur Noth verſtehen, was Sie meinen, und doch — das Unglück macht ſo träge, daß Ihre liebevollen Worte nur halb mein ſtumpfes Ohr noch treffen — O daß ein Schlaf ſich auf mich legte, wie Berge ſo ſchwer und ſo dumpf! Daß ich nichts wüßte von Geſtern und Heute und Morgen! Daß eine Gottheit dieſen mattgehezten Geiſt, weichbettend, in das alte Nichts hinfallen ließe! ein unermeßlich Glück — —!“ Er überließ ſich einen Augenblick die- ſem Gedanken, dann fuhr er fort: „Ja, läge zum wenig- ſten nur dieſe erſte Stufe hinter mir! Und doch, wer kann wiſſen, ob ſich dort nicht der Knoten nochmals verſchlingt? — — O Leben! o Tod! Räthſel aus Räthſeln! Wo wir den Sinn am ſicherſten zu treffen meinten, da liegt er ſo ſelten, und wo man ihn nicht ſuchte, da gibt er ſich auf einmal halb und von ferne zu erkennen, und verſchwindet, eh’ man ihn feſthalten kann!“
Agneſens Begräbniß iſt auf den morgenden Sonntag beſchloſſen.
Die Nacht zuvor ſchläft Nolten ruhig wie ſeit langer Zeit nicht mehr. Der ehrliche Gärtner muthet ſich zu, noch einmal bei der geliebten Leiche zu wa- chen, ihm leiſtet der Sohn Geſellſchaft, und da der Alte endlich einnickt, iſt Henni die einzig wache Per- ſon in dem Schloſſe. — Der gute Junge war recht
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„Ich kann,“ erwiderte Nolten nach einer klei-
nen Stille, „ich kann zur Noth verſtehen, was Sie
meinen, und doch — das Unglück macht ſo träge, daß
Ihre liebevollen Worte nur halb mein ſtumpfes Ohr
noch treffen — O daß ein Schlaf ſich auf mich legte,
wie Berge ſo ſchwer und ſo dumpf! Daß ich nichts
wüßte von Geſtern und Heute und Morgen! Daß
eine Gottheit dieſen mattgehezten Geiſt, weichbettend,
in das alte Nichts hinfallen ließe! ein unermeßlich
Glück — —!“ Er überließ ſich einen Augenblick die-
ſem Gedanken, dann fuhr er fort: „Ja, läge zum wenig-
ſten nur dieſe erſte Stufe hinter mir! Und doch, wer
kann wiſſen, ob ſich dort nicht der Knoten nochmals
verſchlingt? — — O Leben! o Tod! Räthſel aus
Räthſeln! Wo wir den Sinn am ſicherſten zu treffen
meinten, da liegt er ſo ſelten, und wo man ihn nicht
ſuchte, da gibt er ſich auf einmal halb und von ferne
zu erkennen, und verſchwindet, eh’ man ihn feſthalten
kann!“
Agneſens Begräbniß iſt auf den morgenden
Sonntag beſchloſſen.
Die Nacht zuvor ſchläft Nolten ruhig wie ſeit
langer Zeit nicht mehr. Der ehrliche Gärtner muthet
ſich zu, noch einmal bei der geliebten Leiche zu wa-
chen, ihm leiſtet der Sohn Geſellſchaft, und da der
Alte endlich einnickt, iſt Henni die einzig wache Per-
ſon in dem Schloſſe. — Der gute Junge war recht
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 627. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/313>, abgerufen am 24.11.2024.
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