Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.jährlich nach Holland gehen; wird bejahet. so bedachte er nicht, daß das frühere Heyrathen nur bey Hand-thierungen, wovon Bürger und Heuerleute leben, möglich sey, und die deutsche Nation, welche er schilderte, nicht aus Bürgern und Heuerleuten, sondern aus Landbesitzern bestand. Die hiesigen Heuerleute heyrathen mit zwanzig Jahren; und mithin zehn Jahr früher als Anerben. Gesetzt also, sie wä- ren mit funfzig Jahren alt und kümmerlich: gesetzt, ein gan- zes Kirchspiel sähe seine besten Leute; und ein Mann alle seine Brüder und Verwandte sterben: so wird derjenige, der nahe am Kirchhofe wohnet; oder den dieser Verlust hauptsächlich trist, das unglückliche Hollandsgehen leicht beklagen. Allein die große Staatsrechnung leidet darunter nichts. Es ver- hält sich hierinn mit den hiesigen Hollandsgängern, wie mit den Bergleuten. Diese erreichen kein hohes Alter, und sind früh kümmerlich. Ihre Anzahl vermindert sich aber da- durch nicht. Sie werden sich doppelt vermehren, wenn hin- längliche Arbeit vorhanden. Wahr ist es weiter, daß von den Leuten, welche sol- stichi- Mösers patr. Phantas. I. Th. G
jaͤhrlich nach Holland gehen; wird bejahet. ſo bedachte er nicht, daß das fruͤhere Heyrathen nur bey Hand-thierungen, wovon Buͤrger und Heuerleute leben, moͤglich ſey, und die deutſche Nation, welche er ſchilderte, nicht aus Buͤrgern und Heuerleuten, ſondern aus Landbeſitzern beſtand. Die hieſigen Heuerleute heyrathen mit zwanzig Jahren; und mithin zehn Jahr fruͤher als Anerben. Geſetzt alſo, ſie waͤ- ren mit funfzig Jahren alt und kuͤmmerlich: geſetzt, ein gan- zes Kirchſpiel ſaͤhe ſeine beſten Leute; und ein Mann alle ſeine Bruͤder und Verwandte ſterben: ſo wird derjenige, der nahe am Kirchhofe wohnet; oder den dieſer Verluſt hauptſaͤchlich triſt, das ungluͤckliche Hollandsgehen leicht beklagen. Allein die große Staatsrechnung leidet darunter nichts. Es ver- haͤlt ſich hierinn mit den hieſigen Hollandsgaͤngern, wie mit den Bergleuten. Dieſe erreichen kein hohes Alter, und ſind fruͤh kuͤmmerlich. Ihre Anzahl vermindert ſich aber da- durch nicht. Sie werden ſich doppelt vermehren, wenn hin- laͤngliche Arbeit vorhanden. Wahr iſt es weiter, daß von den Leuten, welche ſol- ſtichi- Möſers patr. Phantaſ. I. Th. G
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0115" n="97"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">jaͤhrlich nach Holland gehen; wird bejahet.</hi></fw><lb/> ſo bedachte er nicht, daß das fruͤhere Heyrathen nur bey Hand-<lb/> thierungen, wovon Buͤrger und Heuerleute leben, moͤglich<lb/> ſey, und die deutſche Nation, welche er ſchilderte, nicht aus<lb/> Buͤrgern und Heuerleuten, ſondern aus Landbeſitzern beſtand.<lb/> Die hieſigen Heuerleute heyrathen mit zwanzig Jahren; und<lb/> mithin zehn Jahr fruͤher als Anerben. Geſetzt alſo, ſie waͤ-<lb/> ren mit funfzig Jahren alt und kuͤmmerlich: geſetzt, ein gan-<lb/> zes Kirchſpiel ſaͤhe ſeine beſten Leute; und ein Mann alle ſeine<lb/> Bruͤder und Verwandte ſterben: ſo wird derjenige, der nahe<lb/> am Kirchhofe wohnet; oder den dieſer Verluſt hauptſaͤchlich<lb/> triſt, das ungluͤckliche Hollandsgehen leicht beklagen. Allein<lb/> die große Staatsrechnung leidet darunter nichts. Es ver-<lb/> haͤlt ſich hierinn mit den hieſigen Hollandsgaͤngern, wie<lb/> mit den Bergleuten. Dieſe erreichen kein hohes Alter, und<lb/> ſind fruͤh kuͤmmerlich. Ihre Anzahl vermindert ſich aber da-<lb/> durch nicht. Sie werden ſich doppelt vermehren, wenn hin-<lb/> laͤngliche Arbeit vorhanden.</p><lb/> <p>Wahr iſt es weiter, daß von den Leuten, welche ſol-<lb/> chergeſtalt in die Fremde gehen, jaͤhrlich zehen von hundert<lb/> verlohren gehen. Einige gehn auf den Herings- und Wall-<lb/> fiſchfang; und die Reiſen zur See verfuͤhren manchen nach<lb/> Oſt- und Weſtindien. Wie viel Einwohner in Cuiraſſeau ſind<lb/> nicht aus hieſigem Stifte? Viele, die nach England in die<lb/> Thranſiedereyen, oder nach Holland auf allerhand Arbeit aus-<lb/> gehen, laſſen ſich, wenn ſie zu Hauſe keine Weiber haben,<lb/> leicht bereden, gar auszubleiben. Allein es iſt auch wiederum<lb/> wahr, daß wir die große Menge von Heuerleuten nicht ha-<lb/> ben wuͤrden, wenn der Verdienſt in der Fremde wegfallen<lb/> ſollte. Wir wuͤrden alsdenn ſicher nicht den zehnten Theil<lb/> derjenigen haben, die jetzt im Lande ſind; und ſo iſt der ge-<lb/> genwaͤrtige Verluſt nichts gegen denjenigen, welchen wir im<lb/> Gegentheil leiden wuͤrden. Ein Baum, wovon viele wurm-<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Möſers patr. Phantaſ.</hi><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Th.</hi> G</fw><fw place="bottom" type="catch">ſtichi-</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [97/0115]
jaͤhrlich nach Holland gehen; wird bejahet.
ſo bedachte er nicht, daß das fruͤhere Heyrathen nur bey Hand-
thierungen, wovon Buͤrger und Heuerleute leben, moͤglich
ſey, und die deutſche Nation, welche er ſchilderte, nicht aus
Buͤrgern und Heuerleuten, ſondern aus Landbeſitzern beſtand.
Die hieſigen Heuerleute heyrathen mit zwanzig Jahren; und
mithin zehn Jahr fruͤher als Anerben. Geſetzt alſo, ſie waͤ-
ren mit funfzig Jahren alt und kuͤmmerlich: geſetzt, ein gan-
zes Kirchſpiel ſaͤhe ſeine beſten Leute; und ein Mann alle ſeine
Bruͤder und Verwandte ſterben: ſo wird derjenige, der nahe
am Kirchhofe wohnet; oder den dieſer Verluſt hauptſaͤchlich
triſt, das ungluͤckliche Hollandsgehen leicht beklagen. Allein
die große Staatsrechnung leidet darunter nichts. Es ver-
haͤlt ſich hierinn mit den hieſigen Hollandsgaͤngern, wie
mit den Bergleuten. Dieſe erreichen kein hohes Alter, und
ſind fruͤh kuͤmmerlich. Ihre Anzahl vermindert ſich aber da-
durch nicht. Sie werden ſich doppelt vermehren, wenn hin-
laͤngliche Arbeit vorhanden.
Wahr iſt es weiter, daß von den Leuten, welche ſol-
chergeſtalt in die Fremde gehen, jaͤhrlich zehen von hundert
verlohren gehen. Einige gehn auf den Herings- und Wall-
fiſchfang; und die Reiſen zur See verfuͤhren manchen nach
Oſt- und Weſtindien. Wie viel Einwohner in Cuiraſſeau ſind
nicht aus hieſigem Stifte? Viele, die nach England in die
Thranſiedereyen, oder nach Holland auf allerhand Arbeit aus-
gehen, laſſen ſich, wenn ſie zu Hauſe keine Weiber haben,
leicht bereden, gar auszubleiben. Allein es iſt auch wiederum
wahr, daß wir die große Menge von Heuerleuten nicht ha-
ben wuͤrden, wenn der Verdienſt in der Fremde wegfallen
ſollte. Wir wuͤrden alsdenn ſicher nicht den zehnten Theil
derjenigen haben, die jetzt im Lande ſind; und ſo iſt der ge-
genwaͤrtige Verluſt nichts gegen denjenigen, welchen wir im
Gegentheil leiden wuͤrden. Ein Baum, wovon viele wurm-
ſtichi-
Möſers patr. Phantaſ. I. Th. G
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/115 |
Zitationshilfe: | Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/115>, abgerufen am 30.07.2024. |