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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

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Schreiben einer Hofdame


XXVI.
Schreiben einer Hofdame an ihre Freundin
auf dem Lande.

Das heißt einmal auf dem Lande gewesen und nun auch
in meinem Leben nicht wieder. Bin ich doch beynahe
erstickt von dem Dufte ihrer groben Schüsseln! Welcher
Mensch setzt einem dann noch Schinken und Kalbsbraten vor?
Hatten sie nicht auch noch einen Rinderbraten oder Markpud-
ding? Es war ein Glück für mich, daß die Fenster offen wa-
ren, sonst wäre ich nicht lebendig aus dem Speisezimmer ge-
kommen, so kräftig so sättigend war alles bey Ihnen ange-
richtet. Ich glaube Sie kennen bey ihnen den Hunger wie
der geringste Taglöhner. Gottlob! ich habe in zehn Jahren
nicht gewußt was Hunger sey, und setze mich nicht zu Tische
um zu essen, sondern blos um die unnütze Zeit zwischen dem
Nachttische bis zur Cour zu vertreiben. Alleine Sie ....
mit Augen voller Lust sehen sie die Schüsseln. Und die Lich-
ter? Himmel, waren doch in jedem so starke Dochte wie un-
sre Großmütter machten? Und sahen die Bediente nicht aus
als wenn sie die Wohlfahrt des Hauses einem jeden unter die
Nase reiben sollten? In meinem Leben habe ich solche Phy-
sionomien nicht gesehen. Die Leute müssen, deucht mich in
ihrem Leben nichts gethan haben, als essen. Ich mußte Ih-
rem Cammermädgen drey Schritte aus dem Wege gehen, um
nicht in ihrer Atmosphere die Luft zu verlieren.

Gestehen Sie es nur aufrichtig, es ist eine besondre
Dummheit, welche Ihnen und den Landleuten überhaupt alle-
zeit eigen bleibt, daß sie nicht es zu derjenigen feinen Vollkom-
menheit bringen, welche wir am Hofe haben. Wenn Sie

einen
Schreiben einer Hofdame


XXVI.
Schreiben einer Hofdame an ihre Freundin
auf dem Lande.

Das heißt einmal auf dem Lande geweſen und nun auch
in meinem Leben nicht wieder. Bin ich doch beynahe
erſtickt von dem Dufte ihrer groben Schuͤſſeln! Welcher
Menſch ſetzt einem dann noch Schinken und Kalbsbraten vor?
Hatten ſie nicht auch noch einen Rinderbraten oder Markpud-
ding? Es war ein Gluͤck fuͤr mich, daß die Fenſter offen wa-
ren, ſonſt waͤre ich nicht lebendig aus dem Speiſezimmer ge-
kommen, ſo kraͤftig ſo ſaͤttigend war alles bey Ihnen ange-
richtet. Ich glaube Sie kennen bey ihnen den Hunger wie
der geringſte Tagloͤhner. Gottlob! ich habe in zehn Jahren
nicht gewußt was Hunger ſey, und ſetze mich nicht zu Tiſche
um zu eſſen, ſondern blos um die unnuͤtze Zeit zwiſchen dem
Nachttiſche bis zur Cour zu vertreiben. Alleine Sie ....
mit Augen voller Luſt ſehen ſie die Schuͤſſeln. Und die Lich-
ter? Himmel, waren doch in jedem ſo ſtarke Dochte wie un-
ſre Großmuͤtter machten? Und ſahen die Bediente nicht aus
als wenn ſie die Wohlfahrt des Hauſes einem jeden unter die
Naſe reiben ſollten? In meinem Leben habe ich ſolche Phy-
ſionomien nicht geſehen. Die Leute muͤſſen, deucht mich in
ihrem Leben nichts gethan haben, als eſſen. Ich mußte Ih-
rem Cammermaͤdgen drey Schritte aus dem Wege gehen, um
nicht in ihrer Atmoſphere die Luft zu verlieren.

Geſtehen Sie es nur aufrichtig, es iſt eine beſondre
Dummheit, welche Ihnen und den Landleuten uͤberhaupt alle-
zeit eigen bleibt, daß ſie nicht es zu derjenigen feinen Vollkom-
menheit bringen, welche wir am Hofe haben. Wenn Sie

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[158/0176] Schreiben einer Hofdame XXVI. Schreiben einer Hofdame an ihre Freundin auf dem Lande. Das heißt einmal auf dem Lande geweſen und nun auch in meinem Leben nicht wieder. Bin ich doch beynahe erſtickt von dem Dufte ihrer groben Schuͤſſeln! Welcher Menſch ſetzt einem dann noch Schinken und Kalbsbraten vor? Hatten ſie nicht auch noch einen Rinderbraten oder Markpud- ding? Es war ein Gluͤck fuͤr mich, daß die Fenſter offen wa- ren, ſonſt waͤre ich nicht lebendig aus dem Speiſezimmer ge- kommen, ſo kraͤftig ſo ſaͤttigend war alles bey Ihnen ange- richtet. Ich glaube Sie kennen bey ihnen den Hunger wie der geringſte Tagloͤhner. Gottlob! ich habe in zehn Jahren nicht gewußt was Hunger ſey, und ſetze mich nicht zu Tiſche um zu eſſen, ſondern blos um die unnuͤtze Zeit zwiſchen dem Nachttiſche bis zur Cour zu vertreiben. Alleine Sie .... mit Augen voller Luſt ſehen ſie die Schuͤſſeln. Und die Lich- ter? Himmel, waren doch in jedem ſo ſtarke Dochte wie un- ſre Großmuͤtter machten? Und ſahen die Bediente nicht aus als wenn ſie die Wohlfahrt des Hauſes einem jeden unter die Naſe reiben ſollten? In meinem Leben habe ich ſolche Phy- ſionomien nicht geſehen. Die Leute muͤſſen, deucht mich in ihrem Leben nichts gethan haben, als eſſen. Ich mußte Ih- rem Cammermaͤdgen drey Schritte aus dem Wege gehen, um nicht in ihrer Atmoſphere die Luft zu verlieren. Geſtehen Sie es nur aufrichtig, es iſt eine beſondre Dummheit, welche Ihnen und den Landleuten uͤberhaupt alle- zeit eigen bleibt, daß ſie nicht es zu derjenigen feinen Vollkom- menheit bringen, welche wir am Hofe haben. Wenn Sie einen

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/176>, abgerufen am 24.11.2024.